Seit zwei Jahren leidet auch die Psyche. Denn die Pandemie ist eine völlig neue Situation, sie stellt uns vor Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt.

Foto: Fatih Aydogdu

Vor genau 729 Tagen hat die Corona-Pandemie Österreich offiziell erreicht, die ersten beiden Infektionen wurden bekannt. 20 Tage später, am 16. März 2020, wurde der erste Lockdown ausgerufen. Seit 709 Tagen leben wir mit Ausgangsbeschränkungen, Maßnahmen und der Ungewissheit, wie es mit der Pandemie weitergeht. "Kollektives Trauma" ist ein Begriff, der in dem Zusammenhang öfter fällt – der aber nicht sehr passend ist. "Unter Trauma versteht man sehr schwere Belastungen wie Todesgefahr, körperliche oder sexuelle Gewalt", erklärt Christoph Pieh, Professor für psychosomatische Medizin an der Donau-Uni Krems. "Ich würde hier eher von einer massiven, kollektiven psychischen Belastung sprechen. Ein kollektives Trauma wäre eher bei einem Postkriegsszenario zu erwarten. Damit ist die Pandemie aber nicht vergleichbar."

Dennoch hat sich die Pandemie sehr schnell auf die psychische Gesundheit ausgewirkt: "Wir konnten bereits vier Wochen nach dem ersten Lockdown einen Zuwachs an Depressivität, Ängsten, Schlafstörungen und Stress feststellen", weiß Pieh, der zusammen mit seinem Team seit März 2020 den Stand der psychischen Gesundheit der österreichischen Bevölkerung via Online-Fragebögen erfasst. So stellte die Gruppe fest, dass sich die Anzahl der depressiven Symptome bereits am Anfang verfünffacht hatte und seitdem stabil hoch geblieben ist.

Diese Belastung sei nicht verwunderlich. "Wenn ich höre, es wird bald jeder jemanden kennen, der oder die an Corona verstorben ist, macht das natürlich Angst", erinnert Johannes Wancata, Leiter der Klinischen Abteilung für Sozialpsychiatrie am AKH Wien. Dazu kamen Stressfaktoren wie Homeschooling oder drohender Jobverlust. In dem Zusammenhang zeigte sich aber auch etwas, was an sich schon lange bekannt ist – durch die Pandemie aber weiter verstärkt wurde: Je geringer das Haushaltseinkommen, umso größer ist die psychische Belastung. Wancata: "Es ist definitiv ein Unterschied, ob man eine gewisse Zeit nicht essen gehen oder shoppen konnte oder ob man den Job verloren hat."

Zusammenhalt in der Krise

Wie schwerwiegend und vor allem wie nachhaltig die psychischen Auswirkungen tatsächlich sind, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abschätzen. Klar ist aber, dass vor allem Menschen mit psychischen Vorerkrankungen stärker betroffen sind, sagt Psychiater Wancata: "Im ersten Lockdown wurden weniger Patientinnen und Patienten mit psychischen Erkrankungen stationär aufgenommen. Sie fürchteten sich vor einer Ansteckung mit Covid-19. Durch die spätere Aufnahme waren die Erkrankungen aber um einiges fortgeschrittener als sonst üblich. Menschen mit Schizophrenie etwa kamen mit deutlich schwererer Symptomatik, und es dauerte länger, bis sie sich im Alltag wieder zurechtfinden konnten."

Doch es gibt auch Positives: In Österreich und auch weltweit gab es weniger Suizide während der Pandemie, wie Wancata berichtet: "Warum das so ist, kann man nicht genau sagen. Wir wissen aber, dass in Zeiten massiver Bedrohung für große Teile der Gesellschaft, etwa durch Krieg oder Terroranschläge, die Zahl der Suizide zurückgeht." Die Hypothese ist, dass die Menschen dann näher zusammenrücken. "Das bedeutet nicht, dass sie automatisch besonders freundlich zueinander sind, aber man kann einen gewissen Zusammenhalt beobachten."

Das gilt wohl auf privater Ebene. Gesamtgesellschaftlich konnte sich der Spirit des Zusammenhalts nur bedingt durchsetzen. In dieser Situation der allgemeinen Unsicherheit und Unwissenheit boten staatliche Organe oder gesellschaftliche Institutionen wie die Kirche wenig Beruhigung oder Trost, sagt Klaus Ottomeyer, Sozialpsychologe, Psychotherapeut und emeritierter Professor an der Uni Klagenfurt. Dazu hat er soeben das Buch Angst und Politik. Sozialpsychologische Betrachtungen zum Umgang mit Bedrohungen (Psychosozial-Verlag) publiziert.

Gegen Autoritäten

Einen Fokus lenkt er in diesem Zusammenhang auf die Bewegung der Maßnahmen- und Impfgegner. Denn laut ihm gibt es in der Ablehnung von Schutzmaßnahmen auch einen großen psychischen Aspekt, der wiederum mit dem Recht auf den eigenen Körper zu tun hat. Ottomeyer spricht in diesem Zusammenhang von "Ego-States", das sind unterschiedliche Persönlichkeitsanteile, die durch die "Verordnung von oben" getriggert werden können.

Ausgangspunkt dieser Proteste sei die kleinkindliche Trotzphase: "Die ist wichtig für die Entwicklung, Kinder lernen, sich abzugrenzen und ihre Macht zu spüren. Auch in der Adoleszenz kommt es zu einer Art später Trotzphase, wenn Jugendliche sich etwa von den Eltern nicht sagen lassen wollen, wie lange sie ausgehen dürfen. Die schlimmste Strafe ist dann der Hausarrest, der persönliche Lockdown."

Das Problem: Viele Kinder können diese wichtigen Entwicklungsphasen nicht richtig ausleben. Eltern unterdrücken Widerspruch, strafen, sperren ein oder reagieren sogar mit Gewalt: "Diese Prägungen bleiben hängen. Kommen nun Anweisungen ‚von oben‘, triggert das negative Erfahrungen aus Trotzphase und Adoleszenz, ohne dass einem das überhaupt bewusst ist."

Die Verweigerung der Impfung ist aber mehr als nur Widerstand gegen Autorität: "Dahinter steckt auch eine Angst, sich etwas ‚einimpfen‘ zu lassen. Die Anweisung zur Impfung ist wie ein Introjekt." Damit bezeichnet man in der Psychologie einen Steuerungsmechanismus, den Erwachsene Kindern eintrichtern. Das Verbot, auf die Straße zu laufen, ist so ein Introjekt, ein wichtiges sogar. Aber, weiß Ottomeyer: "Es gibt auch andere Introjekte, etwa dass man dem Vater nicht widersprechen darf oder dass man nicht mit den eigenen Genitalien spielen darf. Das sind dann tyrannische Introjekte, die wir gern wieder loswerden würden."

Tatsache sei, dass solche psychisch, emotional und auch körperlich gewalttätigen Erfahrungen sehr viel mehr Menschen gemacht haben, als der Allgemeinheit bewusst ist. "Wenn sich Menschen jetzt nicht impfen lassen wollen, dann bedeutet das auch, dass sie nicht brav sein wollen, sich nicht unterwerfen lassen von der Obrigkeit."

Impfbegleitung

Lösen könne man das nur, indem man die Impfung gut begleite: "Es braucht in dem Zusammenhang dringend psychologisch-psychoanalytisch geschulte Ärztinnen, Therapeuten, Sozialarbeiterinnen, die auf freundliche Weise den Menschen helfen, ihre Ängste aufzuspüren. So könnte man zumindest einen Teil der Skeptiker abholen."

Wie lange uns die verschiedenen psychischen Folgen der Pandemie noch beschäftigen, ist nicht klar. Psychiater Pieh: "Sollte sich die Pandemie tatsächlich legen, kommt es sicherlich zu einem Rückgang der depressiven Symptome. Aber es wird sicher nicht auf das Niveau wie vor der Pandemie zurückgehen."

Und trotz aller negativen Folgen bewertet er den Umgang vieler Menschen mit dieser außergewöhnlichen Situation positiv: "Die Pandemie hat dazu geführt, dass soziale Kontakte und der Zusammenhalt in der Familie wieder wichtiger geworden sind. Und viele Menschen haben entdeckt, dass Bewegung, Sport oder auch Achtsamkeitsübungen für sie einen guten Ausgleich in dieser Ausnahmesituation bieten." (Jasmin Altrock, Pia Kruckenhauser, 23.2.2022)