Für russische Konsumenten könnte ein Wirtschaftskrieg gegen Europa und die USA teuer werden.

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Es ist eine Erfolgsgeschichte, die in staatsnahen russischen Medien gern erzählt wird. 2014, nach der Annexion der Krim, verhängte die EU Sanktionen gegen Russland. So wurden Investitionen in den russischen Gas- und Ölsektor weitgehend untersagt. Russland antwortete mit der Beschränkung der Einfuhren von Lebensmitteln aus Europa. Seither ist russische Landwirtschaft aufgeblüht. Die Produktion wurde ausgeweitet, Russland exportierte Weizen, Fleisch und Getreide in Rekordmengen. 2020 übertrafen die Ausfuhren erstmals seit dem Kollaps der Sowjetunion die Einfuhren. Größter Abnehmer ist China.

Diese Episode ist Teil einer Erzählung der russischen Staatsführung über die vermeintliche Unverwundbarkeit des Landes. Staatschef Wladimir Putin beteuert seit Tagen, dass ihm neue Sanktionen aus dem Westen keine schlaflosen Nächte bereiten: Europa und die USA wollten Russland ohnehin an seiner wirtschaftlichen Entwicklung hindern, sagt Putin. Sanktionen würden sowieso früher oder später kommen. Man sei darauf vorbereitet.

Aber stimmt diese Erzählung, oder versucht Putin nur seine Nervosität zu verbergen? Vor wenigen Jahren wäre die Antwort eindeutig gewesen. Russland als mittelgroße Volkswirtschaft war von ausländischen Krediten abhängig. Als einziger solider Wirtschaftszweig galt die Öl- und Gasindustrie. Das hat sich zum Teil verändert.

Die Abhängigkeit vom Rohstoffsektor ist zwar geblieben, aber die russische Wirtschaft hat eine Transformation durchgemacht und ist heute mit dem Ausland, vor allem mit Europa, weniger verwoben. Der russische Außenhandel mit der EU ist zurückgegangen. Noch vor sieben Jahren ging die Hälfte der russischen Exporte in die EU, heute sind es nur etwas mehr als 30 Prozent. Auch Importe aus Europa sind rückläufig, bei manchen Produkten wie im Agrarsektor hat sich Russland weitgehend abgekoppelt.

Moskaus strategische Reserve

Parallel dazu hat der Staat seine Abhängigkeit von ausländischem Kapital reduziert. Ende der 1990er-Jahre trieben hohe Dollarschulden das Land in die Pleite. Damit ist es vorbei. Russlands Verschuldung beträgt bloß rund 20 Prozent der Wirtschaftsleistung. In Österreich sind es mehr als 80 Prozent.

Russland hat seit 2014 fast laufend Budgetüberschüsse erwirtschaftet. Der Staat hat viel Geld zusammengespart: Die Reserven belaufen sich auf 640 Milliarden US-Dollar. Ein Teil davon ist über einen nationalen Fonds angelegt. Moskau hat darauf geachtet, seine Dollarbestände zurückzufahren, und hält die Reserven primär in Euro und Gold. Parallel dazu haben auch Unternehmen ihre Abhängigkeit von ausländischem Kapital reduziert.

Diese Kombination aus hohen Reserven und geringer Verschuldung im Ausland gibt dem Kreml kurzfristig Spielraum. Selbst wenn die Öl- und Gaseinnahmen von zuletzt 120 Milliarden US-Dollar im Jahr zurückgehen, wird Moskau das Geld nicht sofort ausgehen. Sollte die russische Staatswährung Rubel an Wert zu verlieren drohen, könnte die Notenbank außerdem mit ihren Reserven intervenieren und den Rubel stützen.

Ein hoher Preis

Allerdings hatte der Kurs des Kreml auch einen hohen Preis: Die russische Wirtschaft ist seit 2014 kaum gewachsen, der Lebensstandard stagniert, und die Kluft zum Westen ist größer geworden. Bei notwendigen Investitionen in die Modernisierung des Landes wurde gespart, sagt Ökonom Vasily Astrov vom Wiener Osteuropainstitut Wiiw. Hinzu kommt, dass Russland sich in vielen Sektoren gar nicht abkoppeln konnte: Bei Autos, Elektronik und Chemikalien importiert Russland die Hälfte seiner Güter aus Europa. Sanktionen würden hier russische Konsumenten ebenso wie die Industrie hart treffen, so Astrov.

Dazu kommt: Auch seine Währungsreserven wird Russland nicht verbrennen wollen. Mit den Mitteln sollte schließlich eine Transformation der Wirtschaft finanziert werden, um die Abhängigkeit von Öl- und Gasverkäufen zu reduzieren, erklärt Ökonom Vladimir Gligorov. Eine weitere Eskalation der Krise kann also Russland empfindlich wehtun. (András Szigetvari, 22.2.2022)