Vor zehn Jahren war die Ukraine noch politisch gespalten, heute herrscht ein starkes Nationalgefühl.

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Wenn ein entschlossener ukrainischer Politiker vor einem Jahrzehnt, nach der Wahl des prorussischen Kandidaten Viktor Janukowitsch zum Staatspräsidenten 2010, einen Aktionsplan entworfen hätte, um aus dem gespaltenen Land, das damals je zur Hälfte zu Russland und zum Westen tendierte, eine geschlossene und tatsächlich eigenständige Nation zu formen, hätte er drei Ziele formulieren können:

Er hätte zuerst – wohl gegen massiven Widerstand – versucht, sich der besonders prorussischen Gebiete zu entledigen – vor allem der Halbinsel Krim und des Donbass –, um das politische Gleichgewicht im Land in Richtung der national-ukrainischen Kräfte zu verschieben.

Er hätte sich dann bemüht, Russland und die großrussische Ideologie in der übrigen Bevölkerung zu diskreditieren, auch bei den Ukrainern mit Russisch als Muttersprache.

Und er hätte schließlich ein Bedrohungsszenario heraufbeschworen, das zum einen die Ukrainer zusammenschweißt und zum anderen breite Unterstützung im demokratischen Ausland für das Land mobilisiert und es damit viel stärker an den Westen bindet.

Putin hat es geschafft

Kein ukrainischer Politiker hätte all dies umsetzen können. Wladimir Putin aber hat es geschafft und damit genau das Gegenteil von dem erreicht, was er in seinen Reden fordert: das Ende einer souveränen und eigenständigen Ukraine. Das Land war vor zehn Jahren noch ohne klare Identität, heute dominiert ein ukrainisches Nationalgefühl.

Nach den Maßstäben des 21. Jahrhunderts mit der zentralen Rolle des Völkerrechts ist die Ukraine ein Opfer russischer Aggression. Aber aus der Perspektive des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die Putin einnimmt, sieht die Sache anders aus. In dieser Zeit wurden Völker besiegt, aber es sind auch neue entstanden – und oft als Folge eines äußeren Feindes. Genauso wie Napoleon die deutsche Nation geschaffen hat, die russischen Zaren die polnische Nation und – auf gewisse Weise – Adolf Hitler die österreichische Nation, erweist sich Putin nun als Baumeister der ukrainischen Nation.

Ähnliche Entwicklung in Belarus

Diesen Prozess würde auch eine großangelegte russische Invasion nicht stoppen, sondern eher noch beschleunigen. Regierungen können gestürzt und Gebiete besetzt werden, aber Nationalgefühle wachsen im Widerstand noch weiter.

Womöglich tritt Putin eine ähnliche Entwicklung in Belarus los, wo er das verhasste Regime von Alexander Lukaschenko an der Macht hält – und Russland so immer mehr als Besatzungsmacht wahrgenommen wird. Auch das wird langfristig wirken.

Putin mag ein grandioser Taktiker sein, als Stratege ist er eine Katastrophe. Was Boris Jelzin und der ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk im Dezember 1991 begonnen hatten – nämlich die Auflösung des russischen Großreiches –, wird von Putin nun unbeabsichtigt vollendet. Die Ukrainer haben Grund, ihn zu fürchten und zu hassen. Aber sie könnten ihm eines Tages auch dankbar sein. (Eric Frey, 23.2.2022)