Eine sich kritisch wähnende Öffentlichkeit erfreut sich an politischer Kunst: der Flüchtling aus "Der Mann, der seine Haut verkaufte".

Foto: Filmladen

Was verbindet ein Zürcher Tätowierstudio mit den Umwälzungen des Arabischen Frühlings? Die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania würde wohl sagen, die Kraft mythologischer Verbindungen. In einem Museum stieß sie das erste Mal auf den mit einer Madonnendarstellung und einem mexikanischen Totenkopf verzierten Rücken des Schweizers Tim Steiner, das lebende Kunstwerk, mit dem der Belgier Wim Delvoye die Kunstwelt provozierte.

Samuel Goldwyn Films

Das Bild des sitzenden Mannes ließ Ben Hania nicht mehr los: "Es verhakte sich in meinem Unbewussten", sagt sie im Gespräch mit dem STANDARD. Erst als sie an einem Film über den Syrien-Krieg und die Migration nach Europa nachdachte, kam es ihr wieder in den Sinn. Was wäre, wenn man seinen Reisepass auf dem eigenen Rücken trüge?

Der Mann, der seine Haut verkaufte erzählt von einem faustischen Pakt, der Wim Delvoyes streitbares Kunstwerk um eine politische Dimension erweitert. Der syrische Flüchtling Sam Ali (Yahya Mahayni) wird bei einer seiner von Hunger geleiteten Vernissagentouren durch Beirut enttarnt. Sam will unbedingt nach Europa, zu seiner Freundin Abeer (Dea Liane), die gegen ihren Willen mit einem Diplomaten verheiratet wurde. Seine Notlage "inspiriert" den Künstler Jeffrey Godefroi (Koen De Bouw) und dessen Händlerin (Monica Bellucci) zu einer Idee: Sie bieten Sam einen "fliegenden Teppich" an, das ersehnte Schengenvisum. Allerdings als Tattoo auf seinem Rücken, das nach Belieben ausgestellt werden kann.

Körper statt Seele

Der Mann, der seine Haut verkaufte erhielt als erster tunesischer Film der Geschichte 2021 eine Oscarnominierung. Die parabelhafte Erzählung, die Christopher Aouns Kamera in gemäldeartige Kompositionen einpasst, trifft zielsicher manche Schieflagen unserer Zeit. Als Produkt des nordafrikanischen Kinos kann man die Arbeit wohl auch als Statement gegen das Kalkül mit sozialkritischen Themen sehen.

Ben Hania selbst verweist auf das Allgemeine im Besonderen, auf universelle Mythen: "Sie verkörpern für mich die reinste Form des Erzählens." Goethe habe sie wie Flaubert in der Schule gelesen: "In Faust ging es um die alte Idee der Seele, ich wollte das Thema stärker aufs Materielle ausrichten, auf den Körper, die Haut, auf etwas, das man herzeigen kann." Pointiert ist besonders ihr Blick auf den westlichen Kunstmarkt, den der Film satirisch als eine von Aufmerksamkeitsökonomien beherrschte Szene zeigt. Sam wird nicht nur als Objekt ausgestellt, sondern auch wie eines behandelt. Die mit ihm intendierte politische Kritik wirkt scheinheilig. Sein Status bleibt vom Wohlwollen der anderen abhängig.

Naive Perspektive

"Ich hatte mit diesem Themenbündel ganz generell den Kapitalismus im Blick", so Ben Hania. Die Perspektive des Films sei bewusst "naiv": "Es ist die eines Flüchtlings, der bisher keinerlei Beziehung zur Kunstwelt hatte. Ich hatte Lust, die Figur in dieser stark kodifizierten Welt zu platzieren, diesen Kontrast auszureizen." Sam wird zum unorthodoxen Kunstwerk, das für alle Abteilungen des Kunstbetriebs eine Art Lackmustest darstellt. Absichten kommen viel ungefilterter zum Ausdruck: "Alle wollen Sam auf eine Weise, die ihn auf seinen Rücken reduziert", sagt Ben Hania.

Als Frau habe sie sich nicht zuletzt für eine nichtdominante Idee von Männlichkeit interessiert. Sam wird als eine fragile Figur gezeichnet, die sich von keiner Seite einspannen lässt. Mahayni spielt ihn fließend und instabil, einmal schäumt er vor Wut, dann flirtet er oder winselt wie ein Kind. Seine Maskulinität, sagt Ben Hania, ist gegen das Klischee des Machismus gerichtet, dem der "arabische Mann" noch anhängt. Dieses Klischee sei nicht mehr zeitgemäß: "Die Männer, die mich umgeben, sind keine solchen Alphatiere!"

Tunesische Regisseurinnen

Innerhalb des tunesischen Kinos ist die 44-Jährige nicht die einzige Regisseurin. Seit dem Arabischen Frühling gebe es eine Welle neuer Künstlerinnen, erzählt sie, die endlich ohne rote Linien arbeiten können. "Es sind aufregende Zeiten, denn auch die rigiden Regeln alteingesessener Demokratien fehlen. – Nur ökonomisch ist es desaströs", sagt sie und lacht dabei laut auf.

Anders als Sams Rücken ist ihr Film nicht von einem "Mäzen" finanziert, sondern mit einer Vielzahl kleinerer Budgets – ein "Albtraum für die Produzenten", sagt sie, aber ganz offensichtlich von Vorteil für die gedankliche Schärfe des Films. (Dominik Kamalzadeh, 24.2.2022)