Militärfahrzeuge aus Russland werden per Zug in Richtung Ostukraine befördert.

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Was hat Wladimir Putin in der und mit der Ukraine vor? Das ist dieser Tage wohl die wichtigste weltpolitische Frage. Und was könnten die ukrainischen Streitkräfte gegen einen Einmarsch ausrichten? Befürchtet wird im schlimmsten Fall, dass Russland das ganze Land besetzen möchte. Doch ist das überhaupt möglich?

Theoretisch, sagt der deutsche Militärexperte Christian Mölling, "ist mit 150.000 Soldaten an drei Fronten plus der Marine im Schwarzen Meer alles möglich". "Die Einnahme Kiews wäre für Putin ein schöner symbolischer Akt, doch wäre das Risiko für solch eine großangelegte Offensive zu hoch." Vielmehr glaubt er, dass Russland versuchen wird, schrittweise Ortsgewinne in der Ostukraine zu erreichen. Dabei könnte er auch versuchen, über Mariupol einen Landweg zur Krim zu schaffen.

Kein Spaziergang

Auch Wolfgang Richter von der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) hält eine umfangreiche Militäraktion für zu riskant. "Russlands Truppen an der Grenze sind mächtig, aber die ukrainische Armee ist mit rund 250.000 Soldaten doppelt so stark und nicht vergleichbar mit jener von 2014. Sie hat an Kampfkraft und an Identität zugenommen und verfügt über rund 1000 Kampfpanzer." Ein Spaziergang für Russland, wie manche glauben, würde es seiner Meinung nach also nicht werden, trotz seiner Luftüberlegenheit.

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Wagt es Putin trotzdem, müsste er weitere Soldaten aus anderen Landesteilen in Richtung Ukraine schicken. "Die strategische Überdehnung der russischen Streitkräfte wäre gewaltig", sagt der Sicherheitsexperte. Hinzu käme der innenpolitische Druck, der entstünde, "wenn so viele Särge nach Hause zurückkehren, und das im Kampf gegen ein sogenanntes Brudervolk". Und so glaubt Richter, dass sich Moskau auf begrenzte militärische Operationen beschränken wird, wie etwa den Einmarsch in die beiden "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk.

"Die große Panzerschlacht fällt aus"

Würde sich Putin damit zufriedengeben? "Im Endeffekt will er, dass die Ukraine von der Landkarte gelöscht wird. Das kann aber auch passieren, indem eine neue Regierung in Kiew das Land für zu Russland zugehörig erklärt", sagt Mölling. Dieses Szenario hält er derzeit aber für unwahrscheinlich: "Da gäbe es massiven Widerstand von der Bevölkerung." Fakt ist für ihn: "Die große Panzerschlacht fällt aus. Die braucht es nicht, wenn man schrittweise vorgeht."

Anderer Meinung ist Oberst Markus Reisner, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Gegenüber der Austria Presse Agentur hält er es für möglich, dass Russland die Osthälfte der Ukraine bis zum Fluss Dnepr einnimmt. Sollte es Widerstand geben, werde es wegen der militärischen Stärke Russlands zu "nachhaltigen Verlusten auf ukrainischer Seite kommen".

Sorgen um Moral der Soldaten

So oder so, Putin sollte auf alle Fälle bald eine Entscheidung treffen. Unter den Truppen an der Grenze sind zwar drei mechanisierte Divisionen dabei, die auch regulär dort stationiert sind. Der Rest aber ist nur provisorisch in Baracken auf Übungsplätzen untergebracht. Deshalb gibt es offenbar jetzt schon Sorge um die Moral der Truppen. Ein Beispiel ist ein Bild aus einer Zugstation, das die NGO Komitees der Soldatenmütter Russlands teilte. Zu sehen sind Soldaten, die eng gedrängt in einem kleinen Raum untergebracht sind. Auch sollen die Essenszuteilungen nicht funktionieren. Eine Auflösung dieser Truppenkonzentration ist angesichts dieser Zustände bald zu erwarten. Das bedeutet: Abzug oder Angriff. (Kim Son Hoang, Manuel Escher, 23.2.2022)