Im Gastkommentar skizziert der Politikwissenschafter Dieter Segert, wie ein Ausweg aus der Krise aussehen könnte.

"Stop War", fordert eine Demonstrantin vor der russischen Botschaft in Berlin.
Foto: Imago Images / Achille Abboud

Zwei Fragen müssen aus meiner Sicht nach der Anerkennung der beiden Separatistenrepubliken in der Ostukraine durch Russland beantwortet werden. Erstens: Warum haben wir diese historische Volte nicht früher kommen sehen? Zweitens: Was ist jetzt zu tun, um die Fehler der vergangenen dreißig Jahre zu korrigieren?

Der laufende militärische Konflikt zwischen der Ukraine und Russland hat sich vor dem Hintergrund von verpassten sicherheitspolitischen Chancen entwickelt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat Anfang der 1990er-Jahre die Chance auf eine europäische Sicherheitsordnung bestanden, in die alle Länder unseres Kontinents nach den Prinzipien der kollektiven Sicherheit eingebunden sind. Diese historische Chance wurde von den Siegern des Kalten Kriegs in einem Gefühl des Triumphs verspielt.

Der US-amerikanische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze spricht von der verfehlten "Eitelkeit des Westens" (siehe Essay in der "Berliner Zeitung"). Man dachte offenbar, Rücksicht muss man nicht mehr nehmen, wenn der frühere Gegner schwach am Boden liegt. Diese Sicht war blind für die Sicherheitsinteressen der Gegenseite.

Interessante Einblicke

Vor diesem Hintergrund kann man die russischen Truppenaufmärsche der vergangenen Monate auch als Versuch werten, endlich Gehör für die eigenen Anliegen zu finden. In der Rede nach der Anerkennung der beiden ostukrainischen Separatistenrepubliken verweist der russische Präsident Wladimir Putin auf die Vorgeschichte dieser Entscheidungen.

Natürlich ist dieses Dokument keine wissenschaftliche Analyse, aber sie gibt interessante Einblicke in die Sichtweise der russischen Elite. Im Jahr 2000 habe Putin dem bei ihm auf Besuch weilenden US-Präsidenten Bill Clinton die Frage gestellt, ob Russland der Nato beitreten könne. Die Reaktion sei sehr zurückhaltend gewesen. 2008 habe man bereits die Sicherheitsgarantien für Russland verlangt und einen Vertrag mit dem Westen vorgeschlagen wie noch einmal im Dezember 2021 im Brief an die US-amerikanische Führung. Der Westen habe sich von diesen Vorschlägen nicht beeindrucken lassen, sondern Russland immer weiter eingeschnürt. Das Reden habe also nichts gebracht. Nun müsse man handeln, um die Interessen der russischen Bevölkerung zu schützen (siehe Rede auf der Kreml-Website sowie Analyse im STANDARD).

Subjektive Seite

Diese russische Sichtweise muss man nicht annehmen, ernst nehmen sollte man sie. Es ist so: Sicherheitsinteressen haben immer auch eine subjektive Seite. Bei uns im Westen ist sie in der Erzählung präsent, dass Demokratien von sich aus keine Kriege verursachen. Das hat schon etwas von Selbsthypnose, wenn man die tatsächliche Geschichte der Demokratien ansieht, ob das die Geschichte kolonialer Eroberungen ist, der Umgang mit den amerikanischen Ureinwohnern oder aber die Kriege, die im Interesse eines Systemwechsels hin zu demokratischen Ordnungen nach 1991 geführt wurden. Zudem gab es viele Stellvertreterkriege.

"Der Kern des Ukraine-Konflikts ist ein Konflikt zwischen Russland und dem Westen, nicht zuerst zwischen Russland und der Ukraine."

Es ist völlig klar, in der Ukraine sollte ein solcher Stellvertreterkrieg nicht geführt werden. Der Kern des Ukraine-Konflikts ist ein Konflikt zwischen Russland und dem Westen, nicht zuerst zwischen Russland und der Ukraine. Daran hat der Westen einen großen Anteil. Als der stärkere Part dieses Konflikts sollte er sicherheitspolitisch in die Offensive gehen. Das Ziel: mehr Sicherheit für alle europäische Staaten, aber eben auch für Russland.

Verhandeln, Vertrauen schaffen

Vorschläge dafür liegen verschiedene auf dem Tisch. 2020 haben russische Außenpolitikexperten zusammen mit dem westlichen Netzwerk European Leadership Network Folgendes vorgeschlagen: sofort über Maßnahmen verhandeln, die Vertrauen schaffen, wieder mehr gegenseitige Offenheit bezüglich geplanter Manöver verwirklichen, über den gegenseitigen Abbau von Mittelstreckenraketen in Europa verhandeln (siehe dazu "Kommersant", "Sieben Schritte vom Abgrund"). Am 5. Dezember 2021 wurde ein Aufruf deutscher Wissenschafter sowie hochrangiger ehemaliger Diplomaten und Offiziere für eine zweite Helsinki-Konferenz veröffentlicht, auf der Prinzipien gemeinsamer Sicherheit unter den gegebenen Bedingungen verhandelt werden sollen.

Nachdem dieser Knoten durchschlagen ist, muss unbedingt auch die gebeutelte ukrainische Bevölkerung bedacht werden. Der Schauspieler Wolodymyr Selenskyj hatte als aufrechter Lehrer Holoborodko im Film Diener des Volkes 2015 einen gerechten Präsidenten gegeben, der sich für weniger Korruption, ein Ende der Oligarchenherrschaft und einen sozialen Staat einsetzt. Als Präsident hat er diese Hoffnung nicht einlösen können. Wenn europäische Politik die Ukraine unterstützen möchte, dann sollte es auch um dieses Ziel gehen. (Dieter Segert, 24.2.2022)