Mediator Ulrich Wanderer weiß im Gastblog aus Erfahrung, dass bei Streitigkeiten das Problem oft ganz woanders liegt.

Ein Lauffreund prägte einst den Sat:z "Wenn du mit 50 aufwachst und dir tut nichts weh, bist du tot." Nun, ganz so schlimm sehe ich es zwar nicht, doch irgendwie hat der liebe Kurt ja schon recht. Irgendwann meldet sich der Körper, wenn er auch in Anspruch genommen wird. Für diese Fälle habe ich Michi, meine Osteopathin. Ich kann mich darauf verlassen, dass so gut wie jeder Schmerz wieder verschwindet, wenn sie dessen Ursprung erkannt hat, selbst wenn er ganz woanders liegt. So könnten Verspannungen im Hüftbereich ihren Ausgang im Fußgewölbe haben und so weiter.

Vom Anspruch zur Emotion

Das ist bei so manchem Konflikt gar nicht so anders. Allein wenn ich an jene Medianden denke, die mich einmal beizogen, um im Vorfeld einer Testamentserstellung Einigkeit zwischen den Geschwistern zu finden. Ganz vordergründig standen Schlagworte wie "Erbrecht" und "Pflichtteilsanspruch", also all jene einfachen juristischen Punkte, die wohl in einer Stunde er- und geklärt werden könnten. Doch bereits nach der ersten Stunde hatte ich die Ehre, etwas tiefer in ihre Familiengeschichte tauchen zu dürfen. Plötzlich spielte nicht mehr paragrafenlastiges Anspruchsdenken die Hauptrolle, sondern jene Erlebnisse, die die Kindheit und Jugend prägten.

Fairness, Moral und Gerechtigkeit

Gerade im Bereich der Erbschaftsmediation spielt die Familiengeschichte eine besondere Rolle. Speziell wenn der Mediator einen juristischen Background hat, werden die Problemstellungen erst möglichst juristisch verpackt. Doch fallen bald Begrifflichkeiten wie "Gerechtigkeit", "Fairness" oder "Moral", womit der Weg in die Emotionalität bereitet ist. Haben Sie schon einmal in einem Konflikt den Begriff der Moral positiv besetzt erlebt? Wenn, dann kommt dieses Wording doch fast immer nur im Kontext der "Unmoral" oder des "unmoralischen" Verhaltens vor und soll einen dahinterstehenden Vorwurf legitimieren.

Als unfair wird eben gerade im Bereich der Erbschaftsmediation jedoch nicht nur die testamentarische Vermögensaufteilung gesehen. Vielmehr kommen gerade in diesem Zusammenhang alle Kränkungen, Verletzungen, Missachtungen der letzten Jahrzehnte ans Tageslicht und werfen ihre Schatten. Fallen Beleidigungen oder werden Kränkungen nie verarbeitet, so bietet der Erbschaftskonflikt nahezu die ultimative Plattform für Revanche oder – im besten Fall – eine Aufarbeitung.

Beim Erben kommen die Leute zusammen – und Streits sind vorprogrammiert.
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Erfahrungen im Rahmen der Erbschaftsmediation

Genau dies ist auch der große Vorteil der Erbschaftsmediation. Ausgehend vom Anlass werden lange zurückliegende Konflikte adressiert und können auch Missverständnisse aufgeklärt werden. Ein großer Teil jener empfundenen Kränkungen, die sich im weiteren Verlauf wie spaltende Wurzeln in das Mauerwerk der familiären Beziehung drängen, stammt aus Erlebnissen, die im Setting der Mediation ohne Gesichtsverlust besprochen und bereinigt werden können. Sobald sich nun alle Beteiligten in einen Mediationsprozess eingelassen haben und die Basics im Sinne der Formalitäten geklärt wurden, können in einem ersten Schritt die Themen und jeweiligen Sichtweisen gehört werden. Hier ist es besonders wichtig, den Erzählungen, den Emotionen und Bedürfnissen aufmerksam zuzuhören und die nonverbalen Erzählungen ebenso wie die verbalen wahrzunehmen.

In einem weiteren Schritt werden dann die zugrundeliegenden Motive, Erwartungen, Kränkungen, also all jene Emotionen erforscht, die – um im Bild der Osteopathie zu bleiben – an ganz anderer Stelle die Verspannungen ausgelöst haben. Hier brechen oftmals vergessene Wunden der Kindheit auf, kommen Erinnerungen an enttäuschte Erwartungen, Eifersucht und Tränen hoch. Werden diese Emotionen jetzt angenommen, wertgeschätzt und auch seitens aller Parteien spürbar verstanden, so baut sich die Straße in Richtung einer nachhaltigen Lösung mehr oder weniger fast von selber. Selbst, wenn ein Elternteil bereits verstorben sein sollte, so ist es manchmal möglich, dass der verbleibende Elternteil stellvertretend für den Verstorbenen spricht.

Geld als Stellvertreter

Das meistens gar nicht so liebe Geld hat in den meisten Konflikten, Scheidung wie auch Erbschaft eine nicht unbeträchtliche Stellvertreterfunktion für den meist unerfüllten Wunsch nach Respekt, Dankbarkeit, Wertschätzung oder auch für eine schlichte Entschuldigung. Erfolgen diese nicht, so wird umso mehr auf dem geldwerten Anspruch bestanden. Fallen jedoch diese oftmals so ersehnten Worte, so kommt es schon vor, dass sich jene Summen, die erst noch im Zentrum des Konflikts standen, plötzlich verändern oder dass zumindest die Zahlungsmodalitäten adaptiert werden. So geschehen in einer Mediation, in der nach einer ergreifenden Aussprache über so manche Übergriffe des bereits verstorbenen Vaters und einet diesbezüglichen Entschuldigung der Mutter der pflichtteilsberechtigte Sohn auf die Anfechtung des Testaments verzichtete und sich mit einer Ratenzahlung einverstanden zeigte.

Einlassung in die Mediation

Bereits die (im besten Fall vorbehaltlose) Einlassung in den Mediationsprozess ist ein sehr gutes Zeichen bezüglich einer konsensorientierten Einigung. Wenngleich jener User, der zum ersten Blogbeitrag treffend bemerkte, dass Mediation sehr wohl auch zur Verzögerung eines Verfahrens eingesetzt werden kann (wobei ja bei eingetragenen Mediatorinnen und Mediatoren die Fristen gehemmt werden und auch nichteingetragene dies mit einer Ruhensvereinbarung teilweise erreichen können), so geschieht dies erfahrungsgemäß eher selten. Viel öfter bedeutet der Beginn der Mediation bereits den Willen zum Gespräch und somit die vielbeschworene halbe Miete. Die den Medianden und ihren Themen geschenkte ungeteilte Aufmerksamkeit stellt dann einen weiteren Katalysator dar: Die Parteien können ihre Gefühle artikulieren, der Mediator sorgt dafür, dass die dahinterstehenden Bedürfnisse auch verstanden werden und ebnet so den Weg für so manches Aha-Erlebnis.

Das Leben als Intervention

Doch es wäre nicht nur vermessen, sondern schlicht falsch zu behaupten, dass es nur an den Künsten der Mediatoren läge, jeden Konflikt zu bereinigen. Wenngleich Ausbildung und Erfahrung so manche Interventionstechniken lehren, die durch Fragetechniken, Änderungen im Setting oder auch absurd anmutende Einwände des Mediators Auswege aus scheinbaren Sackgassen ermöglichen – manchmal steht auch der Mediator ratlos da (wobei ich hier sicher nicht für alle KollegInnen sprechen kann). Persönlich aber verlasse ich mich dann schlichtweg auf den Lebensalltag der Medianden. Erfahrungsgemäß sind es kleinere oder auch größere unerwartete Wendungen zwischen den Mediationsterminen, die auch der verzwicktesten Problemstellung plötzlich wieder einen Neustart ermöglichen. Hier ein offenes Ohr für die kleinen Interventionen des Lebens zu haben, zahlt sich (übrigens nicht nur in der Mediation) durchaus aus.

Pralinenschachtel und Osteopathie

Ja, das Leben ist wie eine Pralinenschachtel, das wusste schon der gute alte Forrest Gump. Lassen wir uns einfach von seinen Wendungen überraschen und freuen uns auf die nächste Praline. Sollte sich einem dabei so mancher Konflikt gleich einer Wand in den Weg stellen, so hilft manchmal der kleine Schritt zurück. Nicht immer ist es tatsächlich der offensichtlichste Aspekt eines Streits, der ihm auch zugrunde liegt. Dieses Prinzip habe ich von meiner Osteopathin gelernt. Danke dir dafür. (Ulrich Wanderer, 2.3.2022)