"Ich habe in der Ukraine wenig nationalistischen Hass gespürt", sagt der Salzburger Autor und Herausgeber Karl-Markus Gauß. In wenigen Wochen bekommt er den Leipziger Buchpreis verliehen.

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Seit Jahrzehnten beschäftigt sich Karl-Markus Gauß mit nationalen Minderheiten und Ethnien – vorzugsweise in Mittel- und Osteuropa. Für seine Essays, Reiseberichte und Journale bekommt der Salzburger Autor Mitte März den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung überreicht. Ein Gespräch über die jüngsten Entwicklungen in der Ukraine.

STANDARD: So tief war die Kluft zwischen West und Ost schon lange nicht mehr. Ein Fanal für Europa?

Gauß: Wir stellen uns den Osten gerne als monolithen Block vor – so als wären umgekehrt ein portugiesischer Landarbeiter und ein deutscher Bankmanager die Repräsentanten ein und desselben einheitlichen "Westens". Sprechen wir vom "Osten", reden wir eigentlich von drei verschiedenen "Osten". Zum einen sind da jene östlichen Mitglieder der EU, von denen uns manche, wie Polen oder Ungarn, um es salopp zu formulieren, ziemlich auf die Nerven gehen. Dann gibt es Länder, die wie die Republik Moldau einen gleichsam äußeren Osten darstellen, für den wir in der EU kaum sinnvolle Angebote und Perspektiven haben. Und dann: der Osten schlechthin, Russland, der Osten als reales, halluziniertes Anti-Europa.

STANDARD: Der Vorstellung von Russland als dem "wilden" Osten steht die Vorstellung eines europäischen Russland gegenüber. Derzeit dominiert Ersteres.

Gauß: Wenn ein Riesenreich wie die Sowjetunion zerfällt, zeitigt das natürlich nicht nur große Entwicklungen, sondern auch verheerende Verwerfungen. Man denke nur an den Zerfall des Osmanischen Reichs, der mit Völkermord und Vertreibung einherging, oder auch an den der österreichisch-ungarischen Monarchie, der überall Minderheiten schuf, mit deren Existenz da und dort die gewaltsame Revision der neuen Grenzen gefordert wurde. Der Gedanke von Russland als Großreich flackert derzeit auf, gerade auch mit dieser Begründung, dass ja eigentlich alle Russen sind und in einem Reich vereint werden sollten.

STANDARD: Das geht so weit, dass Putin der Ukraine das Existenzrecht abspricht. Sein Hegemonialdenken ebnet alle Differenzen zwischen der Ukraine und Russland ein.

Gauß: Zu Zeiten des Maidan haben viele im Westen nicht zu Unrecht geklagt, dass die ukrainische Regierung ein antirussisches Sprachgesetz erlassen hat. Das war ein schweres Unrecht. Man sollte allerdings auch wissen, dass die russische Obrigkeit seit 200 Jahren eine brutale Sprachpolitik betrieben und das Ukrainische in den Status eines primitiven Bauerndialekts niedergedrückt hat.

STANDARD: Die ukrainische Regierung hat ihre Haltung gegenüber dem Russischen später korrigiert.

Gauß: Ja, und egal ob ich in Lemberg oder Odessa unterwegs bin, in den Buchhandlungen sind überall auch russischsprachige Bücher zu kaufen. Es gab in den Neunzigerjahren auch kuriose Momente in diesem Sprachenstreit: Als die Ukraine selbstständig wurde, haben sich die Abgeordneten im Parlament mitunter auf Russisch beschimpft, dass sie keine guten Ukrainer wären. Intellektuelle konnten sich in der Ukraine ja oftmals auf Russisch besser ausdrücken als auf Ukrainisch.

STANDARD: Das offizielle Russland sieht die Ukraine als Anhängsel des eigenen Landes. Aber hatte nicht auch der Westen oftmals ein ähnliches Bild von der Ukraine?

Gauß: Das war nicht immer so. Es gab zum Beispiel eine Art von ukrainischem Wien. So wie die Serben und andere slawische Völker haben auch die Ukrainer ausgerechnet in Wien, in der Metropole der übernationalen Monarchie, ihre nationale und sprachliche Identität entdeckt. Dass sich der Westen in jüngerer Vergangenheit Versäumnisse in seiner Ukraine-Politik hat zuschulden kommen lassen, stimmt, ist aber leicht gesagt. Natürlich spricht die EU kaum je mit einer Stimme, das ist zu bedauern, aber wenn sie es manchmal dennoch tut, rauscht andererseits gleich das Gerede von der Brüsseler Diktatur auf.

STANDARD: Manche haben Verständnis dafür, dass Russland seinen Vorgarten im eigenen Einflussbereich halten möchte. Was sagen Sie dazu?

Gauß: Ich gehöre jener Generation an, die sich vor dreißig, vierzig Jahren dagegen empört hat, dass die USA die mittelamerikanischen Länder einfach zu ihrem "Hinterhof" erklärten, in dem ihre Regeln zu herrschen haben. Da kann ich doch jetzt nicht rechtfertigen, dass Russland die Länder um sich herum zu ihrem "Vorgarten" erklärt, in dem die Menschen gefälligst nach russischen Vorgaben zu leben haben. Dass Russland aus historischen Gründen nicht hinnehmen kann, dass in ihren "Vorgärten" dereinst strategische Waffen aufgestellt werden, muss man verstehen. Was meine ukrainischen Freunde für ein reales Szenario halten, das ist der Zerfall der Ukraine in einen russischen und einen westorientierten Teil, der sich vage an uralten historischen Grenzen vollzieht. Die meisten sind darüber entsetzt, aber gar nicht einmal alle.

STANDARD: Gefährlicher Gedanke.

Gauß: In der Tat. Er enthält eine Verachtung der Russen bzw. des sogenannten Homo sovieticus, von dem sich mancher sagt: Sind wir froh, dass wir, die zivilisierten Europäer, ihn los sind. Und zudem besteht natürlich die Gefahr, dass dieser Gedanke irgendwann auch im Westen salonfähig wird und den Zerfall als das Vernünftige akzeptiert.

STANDARD: Aus der Sicht des Westens erstaunt die politische Apathie vieler Ukrainer, auch jene vieler Kunstschaffender. Woher kommt die?

Gauß: Familiär haben zahllose Ukrainer russische Vorfahren oder russische Familienmitglieder. Ich habe in der Ukraine insgesamt wenig nationalistischen Hass gespürt – außer von rechtsradikalen Vereinen, in denen übrigens weit weniger Menschen organisiert sind als in Deutschland in der AfD.

STANDARD: Diese rechtsradikalen Verbände bekommen im Westen aber viel Aufmerksamkeit.

Gauß: Es ist ein auf hochmütiger Unkenntnis oder schlichter Propaganda beruhendes Vorurteil, die Ukraine für einen halbfaschistischen Staat zu halten. Nirgends in Europa gibt es so viele jüdische Abgeordnete im Parlament wie dort, auch so viele Abgeordnete nationaler Minderheiten, und Selenskyj selbst ist nicht der erste Präsident jüdischer Herkunft. Im Alltag hat das Land etwas real Multikulturelles, aber es gibt offenbar von außen und innen den Wunsch, das zu zerstören.

STANDARD: Österreich hat durch die Donaumonarchie eine besondere Beziehung zur Ukraine. Angesichts von Nord Stream 2 scheint die hiesige Politik darauf vergessen zu haben. Ist das nicht beschämend?

Gauß: Putin hat in Österreich viele Anhänger. Jene Linken, die voll auf seine Propagandalüge von der faschistischen Ukraine hereingefallen sind; die Rechten sowieso, als deren Patron er ja in ganz Europa auftritt. Und viele sogenannte Wirtschaftstreibende, die sich ihre guten Geschäfte wegen des bisschen Kriegs nicht verpatzen lassen wollen.

STANDARD: Wagen Sie auch einen Ausblick im Ukraine-Konflikt?

Gauß: Nein, aber wenn wir in den letzten Jahrzehnten etwas gelernt haben, dann, dass sich die Dinge manchmal sehr schnell und oft in unerwartete Richtung entwickeln können. Angebracht sind wirtschaftliche Sanktionen, die stark sein müssen und auch den Westen selbst, auch uns Österreicher, etwas kosten würden. (Stephan Hilpold, 25.2.2022)