Mit Protestaktionen will Anna Pattermann der Ukraine zeigen, dass man sie nicht vergessen hat.

Foto: Christian Fischer

Wenn Anna Pattermann über ihr Zuhause spricht, dann greift sie sich oft an die Brust, dorthin, wo das Herz schlägt. Es schmerzt sie sichtbar, über den Krieg zu sprechen, der in der Ukraine stattfindet. Es ist Mittwochabend, in wenigen Stunden wird der russische Präsident Bodentruppen entsenden. Auch hier in Wien, über 400 Kilometer Luftlinie von der ukrainischen Grenze entfernt, bangen Ukrainerinnen und Ukrainer um ihr Land. Etwas weniger als 13.000 Menschen umfasst die ukrainische Diaspora in Österreich. Die Zahlen steigen seit Jahren leicht, es bleibt aber eine kleine Community, wenn auch eine sehr aktive.

Protestaktionen für die Ukraine

Mehr als zwei Dutzend von ihnen haben sich in der Wiener Innenstadt versammelt, um ihre Sorgen und Ängste auf die Straße zu tragen. "Russland ist nicht nur eine Bedrohung für die Ukraine, sondern für ganz Europa", sagt Anna Pattermann. Die 25-Jährige stammt aus Khmelnitskyi, zwischen Kiew und Lemberg im Westen des Landes gelegen. Sie kam mit 17 nach Wien, lernte hier Deutsch und studiert Politikwissenschaften.

Und sie gründete die Organisation Unlimited Democracy. Gemeinsam mit zwei Dutzend anderen Ukrainerinnen und Ukrainern stellt sie nun im Pfarrsaal der Barbarakirche in der Altstadt Demonstrationen auf die Beine, die über die nächsten Tage stattfinden sollen. "Es ist wichtig, dass die Menschen in der Ukraine wissen, dass man sie nicht vergessen hat", sagt Pattermann. An die 30 Menschen sind gekommen, um die Protestaktionen zu organisieren. Die Barbarakirche gilt als die älteste ukrainische Kirche außerhalb der Ukraine. An die zwei Dutzend ukrainische Vereine gibt es hierzulande, der Großteil davon ist in Wien ansässig.

Gottesdienst und Demo

Sie organisieren kulturelle Veranstaltungen und sind auch darüber hinaus ein Ort der Zusammenkunft. Hinzu kommen zwei ukrainische Samstagsschulen für Unterricht in der Muttersprache. Neben dem ukrainischen Lokal Elvira’s im dritten Bezirk gelten auch Kirchen als sozialer Treffpunkt. Vier religiöse Gemeinden zählt die Community in Wien: eine orthodoxe, eine evangelische und zwei katholische.

Man besucht den Gottesdienst, tratscht anschließend im Freien, trinkt Kaffee oder setzt sich in eines der umliegenden Lokale. Allen voran die Barbarakirche wird gerne als politisches Zentrum genützt. An diesem Mittwochabend lehnt in einer Ecke eine mannshohe Ukraine-Fahne an der Wand, kleinere gelb-blaue Stockflaggen liegen auf den Tischen zwischen Plundergebäck und Gugelhupf zur Entnahme. Svitlana Kosachenko, eine der Mitorganisatorinnen der ukrainischen Proteste in Wien, ist sichtlich aufgewühlt. Die 45-jährige, die als Fremdenführerin in Wien lebt, sagt: "Dass Wladimir Putin so weit gehen würde, war für viele undenkbar. Aber er ist absolut unberechenbar." Ihre Familie lebt in Kiew, vor einer Woche schon konnte sie ihre Schwester und deren elfjährigen Sohn nach Wien holen. Visumsfrei dürfen Ukrainerinnen und Ukrainer drei Monate nach Österreich ein reisen. Bisher war Österreich von ukrainischen Flüchtlingsbewegungen nicht stark betroffen. Im Vorjahr zählte das Innenministerium 88 Asylanträge von dieser Gruppe von Staatsbürgerinnen und -bürgern.

Die ukrainische Community in Europa

Dass es so wenige sind, liegt zum einen an der Geografie: Wer von der Ukraine aus Europa anvisiert, kommt zunächst einmal im angrenzenden Polen, Rumänien, Ungarn oder der Slowakei an – im Erstankunftsland ist den EU-Regeln zufolge der Asylantrag zu stellen.

Zum anderen sind die Einreise- und Arbeitsbestimmungen hierzulande strenger als etwa in Deutschland. So entstand in anderen Ländern bereits eine weitaus größere Diaspora. In Polen oder auch Italien zum Beispiel leben die meisten Menschen ukrainischer Abstammung innerhalb der EU. Die meisten Menschen, die es dauerhaft nach Österreich verschlägt, sind daher vor allem jung und gut ausgebildet. Auch Roman Rudenko kam zum Studieren. Der 24-jährige Politikwissenschaftstudent aus Luhansk versucht gerade, seine Großmutter aus dem besonders heftig umkämpften Osten der Ukraine herauszubekommen und in einer Wohnung in einem sichereren Gebiet unterzubringen. Karolina, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, steht ebenfalls im engen Kontakt mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter, die 40 Kilometer von der russischen Grenze festsitzen. "Ich bin sehr nervös, weil meine Oma nicht mobil ist und beide nicht das Haus verlassen können", sagt die 37-jährige Konferenzdolmetscherin.

Kühler Kopf gegen Putin

Sie alle werden am nächsten Vormittag auf dem Minoritenplatz stehen, für die ersten von mehreren Demonstrationen am Donnerstag. Viele von ihnen werden dort weinen und härtere Sanktionen gegen Russland fordern. Für Samstag ist die größte Kundgebung geplant, einige Regierungsvertreterinnen und -vertreter sollen dort sprechen. Auch Lidiia Akryshora kämpft mit den Tränen. Sie tippt ununterbrochen in ihr Handy, aktualisiert Nachrichtenseiten, liest in Chatgruppen nach. Die 32-jährige Journalistin, die am Institut für die Wissenschaften vom Menschen ein Forschungsprojekt über die Ukraine betreut, sorgt sich um Familie und Freunde in ihrer Heimat. "Die Situation ist noch surreal", sagt Akryshora. Sie versuche, einen kühlen Kopf zu bewahren. Denn ihre Eltern würden immer sagen: Alles andere helfe nur Putin. (Anna Giulia Fink, Sarah Maria Kirchmayer, 24.2.2022)