Anders als bisher angenommen sind die meisten Attacken im Cyberspace nicht von China, sondern von Russland ausgegangen. Zu diesem Resultat kommt eine neue Studie des Londoner Strategieinstituts IISS. Ziel der Cyberkrieger aus Moskau seit 2013 sei immer wieder die Ukraine gewesen, erläuterte am Donnerstag der Hauptautor der Studie, Greg Austin. Beim Einmarsch ins Nachbarland werde aber die digitale Komponente gegenüber konventionellen Waffen keine wichtige Rolle spielen: "Wahrscheinlich hat Moskau Angst vor einer entsprechenden Vergeltung durch die westlichen Verbündeten der Ukraine."

Bereits vergangene Woche hatten die IISS-Experten die herkömmliche militärische Stärke beider Seiten sowie Moskaus Angriffsoptionen abgewogen. Dabei war von einem "raschen Schlag" der stark überlegenen russischen Streitkräfte die Rede. Tatsächlich seien alle Überlegungen, Putin werde die Offensive auf den russischsprachigen Osten des Landes begrenzen, schon durch die Truppenbewegungen am Donnerstag hinfällig geworden, teilte General Richard Shirreff der BBC mit: "Die Russen hängen nicht rum." Vielmehr handele es sich um den Versuch, den Gegner durch "überwältigende Stärke" zu beeindrucken, analysierte der frühere Vizeoberbefehlshaber der Nato in Europa. Ziel sei offenbar nicht nur die Errichtung eines Landkorridors zur schon 2014 annektierten Halbinsel Krim, sondern ein Angriff auf das gesamte Land.

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Russische Panzer bei Mariupol.
Foto: Reuters/Barria

Im Cyberspace habe sich Russland schon seit Jahren auf den Nachbarn eingeschossen, berichtet Nadiya Kostyuk vom Georgia Institute of Technology in Atlanta (USA). "Dazu gehört die Manipulation von Wahlen ebenso wie ökonomische Störungen, beispielsweise durch Angriffe auf die Stromversorgung." Zudem werde durch die Verbreitung von Fake News Panik in der Bevölkerung über etwaige Bomben in der U-Bahn geschürt sowie das Vertrauen in die eigene Regierung unterminiert. "Seht her, die können nicht einmal ihre eigenen Websites ordentlich absichern", laute dabei das Motto der Cyberkrieger.

Ob aber die Manipulation der öffentlichen Meinung sowie direkte Angriffe auf vitale zivile Infrastruktur im jetzt begonnenen Krieg gegen die Ukraine zum Zuge kommen? Daran habe die russische Kriegsführung während des syrischen Bürgerkriegs im vergangenen Jahrzehnt Zweifel aufkommen lassen, analysiert Austin. Offenbar war damals das Cyberkommando noch nicht ausreichend in die Zusammenarbeit herkömmlicher Waffengattungen integriert. Dies könnte sich nun ändern.

Schwierige Position

Für wichtiger als mögliche Vergeltungsmaßnahmen im Cyberspace hält der IISS-Experte Technologiesanktionen durch den Westen, insbesondere die USA. "Ich warte auf die Ankündigung, dass Microsoft sein Büro in Moskau schließen muss." Wegen Russlands Abhängigkeit vom internationalen IT-Sektor würde ein solcher Schritt das Land in eine schwierige Position bringen.

Die militärische Überlebensfähigkeit des angegriffenen Landes beurteilt das IISS pessimistisch. Mindestens im Osten des Landes kommt das weitgehend flache und gefrorene Terrain dem Ziel einer raschen Offensive entgegen. Die Hauptstadt Kiew liegt nur rund 150 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt. Im Schwarzen Meer hat die russische Flotte komplette Überlegenheit, während der Ukraine nur noch ein größeres Kriegsschiff verblieben ist.

Moderne Kriegsführung

Zwar hätten die ukrainischen Streitkräfte in den vergangenen Jahren hinzugelernt, nicht zuletzt durch westliche Ausbilder. Dafür verfügten aber viele russische Kommandeure über frische Erfahrung aus dem syrischen Bürgerkrieg. "Da haben sie viel über moderne Kriegsführung gelernt", glaubt der frühere Brigadegeneral Ben Barry.

Systematisch seien beim Einsatz in Syrien die Truppenteile sowie deren Offiziere regelmäßig ausgetauscht worden, um möglichst vielen Berufssoldaten Einblick in die Kampfhandlungen zu geben. Dazu zählt die Koordination zwischen Armee und Luftwaffe, gerade auch im Häuserkampf größerer Städte.

Verbesserte Ausrüstung

Für das Ziel einer raschen Überwältigung des Gegners spricht dem Luftwaffenexperten Douglas Barrie zufolge auch die derzeitige Ausrüstung der russischen Streitkräfte. Diese habe sich in den vergangenen Jahren stark verbessert. Putin werde aber massenhafte Verluste wie in Tschetschenien und eine erhebliche Reduzierung seines Arsenals vermeiden wollen.

Was der Westen, vor allem die Nato, tun kann? Jedenfalls keine eigenen Truppen in die Ukraine schicken, sagt General Shirreff: "Das wäre gleichbedeutend mit dem dritten Weltkrieg." Hingegen sei eine Kriegsführung im Cyberspace denkbar und möglich, glaubt IISS-Mann Austin. Schließlich stelle Moskaus Aggression gegen seinen viel schwächeren Nachbarn die "perfekte Gelegenheit" für die USA und Großbritannien, aber auch andere Nato-Verbündete dar, die eigenen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Allerdings laufe man damit dieselbe Gefahr wie mit der fortlaufenden Veröffentlichung von Geheimdienstberichten der vergangenen Wochen: Indem der Westen seine offenbar guten Erkenntnisse preisgebe, laufe er gleichzeitig Gefahr, den Zugang zum inneren Zirkel Putins zu verlieren. (Sebastian Borger aus London, 24.2.2022)