Russlands Präsident Wladimir Putin dürfte schon vor rund drei Wochen die Entscheidung zum Angriff getroffen haben.

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Moskau ist am Donnerstag friedlich aufgewacht – und war doch schon mitten im Krieg. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte am frühen Morgen der Ukraine de facto den Krieg erklärt. Kurz nach sechs Uhr Moskauer Ortszeit fielen die ersten Bomben in der Ukraine, doch davon bekamen die Einwohnerinnen und Einwohner der russischen Hauptstadt, 500 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, nichts mit.

Keine Sirenen, keine Einschränkungen. In Moskau ging am ersten Kriegstag alles seinen gewöhnlichen Gang; die Kinder zur Schule, die übrigen ihrer Wege. Aus der Metro strömten die Studierenden zur Uni, die Erwachsenen zur Arbeit. Erst langsam verbreitete sich die Nachricht. Apothekerin Darja macht große Augen, als sie vom Kriegsbeginn erfährt. Für viele ist es ein Schock.

Keine große Antikriegsbewegung

Einen Krieg gegen die Ukraine wollen die wenigsten. Doch eine große Antikriegsbewegung in Russland ist wohl nicht zu erwarten. Zu gründlich wurde die innenpolitische Arena in den vergangenen Jahren gesäubert, das Demonstrationsrecht eingeschränkt und die Pressefreiheit beschnitten. Aktivisten, die am Donnerstag wie auch in den vergangenen Tagen Einzelmahnwachen – die einzige noch zugelassene Protestform in Russland – gegen den Krieg abhielten, wurden schnell von der Polizei festgenommen.

Immerhin stellten sich am Donnerstag auch einige Prominente in den sozialen Netzwerken gegen den Krieg: Die bekannten Entertainer Maxim Galkin und Iwan Urgant, der Sänger Waleri Meladse und auch Schach-Vizeweltmeister Iwan Nepomnjaschtschi drückten ihre Trauer, Angst und Fassungslosigkeit aus.

Dabei hat sich die Situation über Monate lang hin darauf zugespitzt. Vor knapp einem Jahr, im Frühjahr 2021, läuteten zum ersten Mal die Alarmsirenen: Ukrainische und westliche Aufklärungsdienste sprachen Ende März von einer Konzentration russischer Truppen nahe der Grenze. Die Schätzungen reichten von 100.000 bis 120.000 Soldaten. Russland stritt lange alles ab; erst Mitte April räumte Verteidigungsminister Sergej Schoigu die Verlegung von zwei Boden- und drei Fallschirmjägereinheiten in die Region ein, die an Manövern teilnähmen.

Generalprobe vor einem Jahr

Ein Teil der Truppen wurde einige Wochen später wieder zurückgezogen – doch das Muskelspiel war eine unverhohlene Drohung und nach Angaben des Washingtoner "Zentrums für strategische und internationale Studien" (CSIS) eine Vorübung für den Ernstfall: Es gebe Gründe zur Annahme, "dass die russischen Militärstreitkräfte nahe den ukrainischen Grenzen entweder einen begrenzten Schlag trainiert haben, der die Ukraine vom Schwarzen Meer abtrennen sollte, oder einen ambitionierteren Plan, um alle ukrainischen Kräfte im Osten einzukreisen", analysierte der Thinktank bereits im Herbst.

Die Ergebnisse müssen dem Kreml gefallen haben. Seit Ende Oktober wurden erneut Truppen zusammengezogen. Seit der Ukraine-Krise 2014 sind ohnehin 87.000 Soldaten in der Region stationiert. Die Aufstockung auf bis zu 150.000 Soldaten bedeutete aber eine klare Verschärfung des Konfliktpotenzials.

"Kriegstreiberei des Westens"

Spätestens hier beginnt die Inszenierung. Denn die russische Führung hat einerseits die von den USA und Europa geäußerten Befürchtungen eines Einmarsches stets verlacht und als "Kriegstreiberei des Westens" abqualifiziert, andererseits die Drohkulisse bewusst aufgebaut, um ein Ultimatum zu stellen.

Dieser Forderungskatalog, abgegeben kurz vor dem katholischen Weihnachtsfest, war womöglich die letzte Chance auf Frieden. Seit Jahren war die Ukraine zum Reizfaktor im Kreml geworden. Die West-Orientierung ihrer neuen Regierung konnte Putin nicht akzeptieren. In Moskau bestand nach 2014 die Hoffnung, dass die durch den Verlust der Krim und der zerstörten Industrie im Donbass geschwächte Ukraine am Ende implodiert.

Anzeichen dafür waren da: Die Verluste der ukrainischen Armee im Konflikt 2014 waren auch aufgrund der Korruption kolossal, der dem Krieg folgende BIP-Einbruch war es ebenso. Die Ukraine verwandelte sich in das Armenhaus Europas. Doch die mit der Abwahl von Petro Poroschenko verbundenen Hoffnungen erfüllten sich für Moskau nicht, auch Nachfolger Wolodymyr Selenskyj änderte den Westkurs der Ukraine nicht.

Unliebsames Nato-Szenario

Die Befürchtung, dass die Ukraine tatsächlich irgendwann der Nato beitritt, ergoss sich dann in das russische Dezember-Ultimatum. Die zentralen Punkte: keine Nato-Osterweiterung und keine militärische Zusammenarbeit des Bündnisses mit der Ukraine, keine Raketenstationierung auf fremdem Territorium und Rückbau aller Nato-Basen auf den Stand von 1997. Die Forderungen hatten einen rationalen Kern: Tatsächlich waren die russischen Forderungen nach Sicherheitsgarantien sträflich lange vom Westen ignoriert worden.

Doch in der Form und als ganzes Paket waren sie kaum annehmbar. Europa wäre ohne US-Waffensysteme zu einem wehrlosen Kontinent gegenüber Russland geworden. Das musste auch dem Kreml bei der Übergabe der Forderungen klar gewesen sein.

Kreml sieht Dialog als sinnlos an

Daher kamen auch nach der Anwort der USA, die einen Dialog über Raketenfragen vorschlugen, Russlands faktisches Vetorecht bei der Nato aber ablehnten, zunächst auch Signale aus Moskau, dass Russland trotz der "unbefriedigenden Antwort" bereit sei, weiter zu verhandeln. Doch irgendwann Ende Jänner oder Anfang Februar muss bei Putin die Entscheidung für die Eskalation gefallen sein.

Ein Indiz dafür: Dem STANDARD wurde im Dezember die Möglichkeit eines Interviews mit dem Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes angedeutet. Auf die offizielle Anfrage hin herrschte dann im Jänner Schweigen, ehe sie im Februar ohne Angabe von Gründen abgelehnt wurde – wie alle Anfragen anderer Medien auch.

Wohl hatte sich zu der Zeit die Ansicht durchgesetzt, dass der Dialog mit dem Westen sinnlos sei und dass die im Feld ausgesetzten Streitkräfte nun eingesetzt werden müssten. Dass die Vermittlungsmissionen von Emmanuel Macron und Olaf Scholz nichts bewirkt hatten, wurde schon aus den Abschlusspressekonferenzen ersichtlich. Gerade gegenüber dem deutschen Bundeskanzler reagierte Putin scharf und beharrte darauf, dass im Donbass mindestens ein ähnlicher "Genozid" stattfinde wie im Kosovo. Damals habe sich die Nato das Recht herausgenommen, Serbien ohne UN-Mandat zu bombardieren.

Militärabzug als Scheinmanöver

Scholz' aus Kiew mitgebrachte Gesetzesinitiativen zum Donbass-Status, Wahlen und einer Verfassungsreform interessierten den Kreml-Chef da schon nicht mehr. Putin nahm keinerlei Bezug darauf und betonte stattdessen nur, dass Kiew das Minsker Abkommen nicht einhalte und nicht einhalten wolle.

Insofern dürfte auch der verkündete Truppenabzug da schon Attrappe gewesen sein. Alle folgenden Ereignisse waren jedenfalls gestellt. Die plötzliche Verschärfung der Lage im Donbass war eine schlechte Inszenierung. Sie erfolgte auf Kommando aus Moskau. Zuerst der – im Voraus aufgezeichnete – Evakuierungsaufruf wegen angeblichen Beschusses, dem 40.000 bis 60.000 Zivilisten, vor allem Frauen, Kinder und Alte folgten, die teilweise am Straßenrand abgesetzt wurden.

Dann kam die gnadenlos inszenierte Show um die Anerkennung: Putin zwang seine Führungsclique im Sicherheitsrat, ihm Loyalität zu schwören und ihn zur Anerkennung der "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk zu "überreden". Diese war tatsächlich längst abgezeichnet, wie sich rekonstruieren ließ. Putin ging es dabei schon lange nicht mehr um die Separatisten im Donbass. In seiner Rede ließ er schon am Dienstag durchblicken, dass er die Ukraine als Gesamtheit nicht anerkennt, als er sein pseudohistorisches Traktat vom Sommer wiederholte, wonach eine Ukraine nie existiert habe und ihre Existenz einzig und allein der Willkür Lenins zu verdanken sei, der sie zum Überfluss auch noch mit ur-russischen Gebieten beschenkte. Die will sich Putin jetzt zurückholen. (André Ballin aus Moskau, 24.2.2022)