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Dutzende ukrainische Militärstellungen wurden nach Moskauer Angaben schon am ersten Tag der Offensive zerstört.

Foto: AP / Sergei Grits

Die schiere Wucht der russischen Offensive gegen die Ukraine vermochte am Donnerstag sogar hartgesottene Experten zu überraschen. "Ich hätte mir erwartet, dass die russischen Landstreitkräfte erst nach dem Erreichen der Lufthoheit ihren Fuß in die Ukraine setzen", sagt Gustav Gressel, ein Österreicher, der als Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations in Berlin forscht. Nun, so stellt sich heraus, schickt Moskau von der Krim und von den östlichen Separatistengebieten aus schon Bodentruppen in die Ukraine, während in der Luft noch gekämpft wird – Marschrichtung: Kiew.

So wie die anderen Analysten, mit denen DER STANDARD über die militärischen Hintergründe der russischen Offensive gegen die Ukraine gesprochen hat, geht auch Gressel davon aus, dass sich die Schlinge um die Hauptstadt schon bald enger ziehen wird, etwa in Form einer Einkesselung der Millionenstadt. Die am Nachmittag gemeldete Landung von Luftsturmtruppen nördlich von Kiew deutet für Gressel darauf hin, dass Russland die Hauptstadt so schnell wie möglich einnehmen will. Die ukrainische Armee werde der russischen Übermacht höchstens Verluste beibringen, aufhalten könne sie diese wohl nicht.

"Bitterböse allein"

"Worum es für die ukrainische Armee geht, ist nicht Verteidigung, sondern Verzögerung", sagt Gressel. "Man will Zeit kaufen, damit die Zivilbevölkerung fliehen kann", glaubt er. Dass es Russland mit seinem Vorstoß über Kiew hinaus auch auf den Westen des Landes abgesehen hat, wagt er nicht zu prognostizieren. "Es würde mich nicht wundern, wenn das weiter ausgreift."

Angesichts der diffusen Drohung Putins, notfalls mit Atomwaffen gegen europäische Länder vorzugehen, die sich in den Konflikt einmischen, sieht der Analyst nicht allzu viel Grund für Optimismus: "Ich fürchte, die Ukraine steht Russland bitterböse allein gegenüber."

Dass man sich angesichts des raschen Vormarsches auch in Österreich Gedanken macht, wie weit Putin gehen könnte, bestätigt Bundesheeroberst Markus Reisner, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. "Erstens möchte man die Ukrainer durch massive Schläge demoralisieren und zur Aufgabe zwingen." Moskau habe gleich zu Beginn seiner Offensive massenhaft SMS an ukrainische Soldaten versandt, in denen es diese zur Kapitulation auffordert. Zweitens, so Reisner, "geht es auch um eine Botschaft an den Westen: Wir sind wieder zurück!"

Russlands Angriff auf die Ukraine sei in seiner Qualität einzigartig in Europa seit 1945 und stelle eine direkte Bedrohung der westlichen Wertegemeinschaft dar, sagt der Militärexperte. "Das kann man nicht mit den Auseinandersetzungen auf dem Balkan vergleichen, bei denen es vor allem um interne Konflikte ging und nicht um einen Angriff eines nuklear bewaffneten Staates auf ein anderes Land."

Schweres Gerät "rückorganisiert"

Die Frage sei nun, wie weit die Russen gehen. Österreich jedenfalls habe nach dem Ende des Kalten Krieges vieles von seinem schweren Gerät, das es brauchen würde, um einem allfälligen Angriff zu begegnen, "rückorganisiert", sagt Reisner.

Allerdings lägen zwischen den aktuellen Ereignissen und einem russischen Angriff auf Nato-Staaten, die zwischen der Ukraine und Österreich liegen, noch viele Eskalationsstufen.

Walter Feichtinger, früher Bundesheerbrigadier und heute Präsident des Thinktanks Center für Strategische Analysen, geht davon aus, dass für eine russische Okkupationsarmee "ein hoher Aufenthaltspreis" fällig würde. Was die Kampfmoral der Ukrainer betrifft, dürfte man sich vom aktuellen Schockzustand nicht täuschen lassen.

Eine Taktik der Ukrainer könnte sein, "an möglichst vielen Orten gleichzeitig auf russische Kräfte loszugehen", skizziert Feichtinger einen möglichen Guerillakrieg. "Je größer der abzudeckende Raum ist, umso mehr Ziele gibt es für subkonventionelle Gruppierungen." Zwar sei es für eine Armee wie jene Russlands durchaus möglich, große Teile der Ukraine zu erobern. Das Problem beginne aber dort, wo ein Panzer zum Stehen komme. "Da muss man an Versorgungslinien denken und diese Kräfte ja auch schützen", sagt Feichtinger. "Wenn es Moskau darum geht, die Regierung zu stürzen, wird ein Marsch auf Kiew aber unerlässlich sein."

Glaubwürdigkeitsproblem

So wie bei den anderen Fachleuten, die mit dem STANDARD gesprochen haben, bleibt auch in Feichtingers Interpretation nicht viel Raum für Optimismus. Dass sich die russischen Luftschläge tatsächlich auf militärische Ziele beschränken und die Zivilbevölkerung verschont bleibt, wie der Kreml am Donnerstag verlautete, glaubt der Ex-Brigadier nicht. "Wer bis jetzt behauptet, nicht angreifen zu wollen, um dann anzugreifen, hat ein massives Glaubwürdigkeitsproblem." (Florian Niederndorfer, 25.2.2022)