In ukrainischen Städten steigen Feuerbälle am Himmel auf, Schüsse hallen, Sirenen heulen. Es ist der finale Akt einer Inszenierung, vor der die USA und ihre Verbündeten gewarnt hatten: Seit Donnerstag, knapp fünf Uhr Früh osteuropäischer Zeit, herrscht offener Krieg.

Kurz zuvor war Russlands Präsident Wladimir Putin an die Mikrofone getreten. In einer Rede kündigte er eine "Spezialoperation" im ukrainischen Donbass an – zudem werde Russland die "Entmilitarisierung" und "Entnazifizierung" in Kiew voranbringen. Was genau damit gemeint ist, ließ er offen. Klar war aber bald, dass der Krieg sich keineswegs auf die rohstoffreiche Region im Osten des Landes beschränken würden.

Noch während Putin sprach, wurden Explosionen in ukrainischen Großstädten gemeldet, auch in der Hauptstadt Kiew. Abgezeichnet hatte sich die Katastrophe schon zuvor.

1 Uhr, Dramatische Rede Selenskyjs

Als auch den letzten Optimisten der Ernst der Lage bewusst wird, ist es ein Uhr Früh in Kiew. Präsident Wolodymyr Selenskyj hält zu nachtschlafender Zeit eine Rede – es ist die beste seines Lebens, meinen Beobachter. Zwei Minuten lang berichtet er seinen Landsleuten über Gespräche mit westlichen Staatschefs und deren Warnungen vor einem Angriff. Dann wechselt er auf Russisch und wendet sich in einem dramatischen Appell an die Bürger des Nachbarlandes: "Dieser Schritt kann der Beginn eines großen Krieges auf dem europäischen Kontinent werden." Er habe auch versucht, mit Kremlchef Wladimir Putin zu telefonieren: "Das Ergebnis: Schweigen."

DER STANDARD

Selenskyj spricht über seine Zeit als Komiker in Donezk, jener Stadt, deren Bewohner Russland nun angeblich vor der Ukraine schützen will. Man spreche auch in der Ukraine Russisch, doch das Land gehöre den Ukrainern. "Wollen die Russen Krieg? Die Antwort hängt nur von Ihnen ab, den Bürgern der Russischen Föderation!", sagte der 44-Jährige auf Russisch.

DER STANDARD

Kurz darauf lässt Moskau den gesamten Luftraum über der Grenze zur Ukraine sperren. Es ist ein unmissverständliches Zeichen – und ein denkbar schlechtes. In den ukrainischen Städten bewegt sich die Stimmung zu diesem Zeitpunkt noch zwischen Unglauben und Spannung. Die Nacht wirkt wie viele andere – außer, dass kaum jemand Schlaf findet.

5 Uhr, Putins Atomdrohung gegen den Westen

Putin hält seine Rede. Sie enthält auch eine deutliche Warnung an den Westen. Wer sich in den Konflikt einmische, dem drohe eine russische Antwort, "die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben". Russland bleibe "einer der mächtigsten Atomstaaten". Für sein Land gehe es "um nicht weniger als um Leben und Tod." Putins Gegner ist klar: die Nato. US-Präsident Joe Biden reagiert Minuten später mit einem Statement. Die Gebete der Welt, so Biden, seien mit der Ukraine. Es drohten "katastrophale menschliche Verluste".

DER STANDARD

Um 4.45 Uhr schreckt auch die ukrainische Journalistin Natalie Gryvnyak in ihrem Apartment in Kiew aus dem Schlaf. Sie hört Explosionen, schaut auf Facebook und Twitter und ruft Freund und Familienmitglieder an. "Egal, wen ich erreicht habe, aus allen Landesteilen haben die Leute das Gleiche berichtet: Sie hören Explosionen, alle haben Angst."

6 Uhr, Explosionen und Opfer im ganzen Land

Wie hoch die Todeszahlen da schon sind, lässt sich schwer abschätzen. Klar ist, dass die ersten Luft- und Raketenangriffe Russlands bereits Opfer fordern – auch zivile, wie Fotos später zeigen. In den Metro-Stationen der großen Städte suchen erste Menschengruppen Zuflucht. Doch besonders schlimm trifft es zunächst die Menschen an der Grenze zu den "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk, wo Russland schnell voranzuschreiten versucht.

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Zuflucht in der Metro.
Foto: AP / Morenatti

Explosionen gibt es aber auch im Westen des Landes, wo viele sich bis zuletzt sicher gefühlt hatten – ins Ziel nimmt Russland dort Flughäfen und Militäreinrichtungen. Oleksander, der seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen will, lebt mit seiner Familie in Lwiw (Lemberg) nahe der polnischen Grenze. Er hat die Einschläge in der Früh gehört. "Alle haben Angst." Ukrainische Kampfflugzeuge werden bei den Angriffen angeblich nicht getroffen: Kiew hatte mit der Attacke gerechnet, die Kampfjets waren in der Luft.

In Brüssel spricht EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einer Reaktion von "dunklen Stunden"– und von harten Sanktionen, die die Union nun gegen den Kreml in Kraft setzen werde. "Ein schrecklicher Tag für die Ukraine, ein dunkler für Europa", sagt Deutschlands Kanzler Olaf Scholz.

9 Uhr, Selenskyj verhängt das Kriegsrecht

In Kiew und vielen anderen Großstädten heulen schon wieder die Sirenen. Auf den Straßen haben sich schon erste Staus gebildet, viele Menschen versuchen das Zentrum zu verlassen. An den Bankomaten gibt es lange Schlagen. Präsident Selenskyj hat sich in einem offenbar via Handy aufgenommenen Video wieder zu Wort gemeldet. Er hat das Kriegsrecht verhängt, warnt zugleich aber vor Panik.

Kiews Verteidigungsministerium dementiert russische Meldungen, wonach ganze Einheiten ihre Waffen niedergelegt hätten, als "psychologische Kriegsführung". Moskau berichtet kurz darauf, die ukrainische Luftabwehr sei unschädlich gemacht. Ganz stimmen kann das nicht, im Laufe des Tages präsentieren die ukrainischen Behörden Bilder abgeschossener russischer Jets und Helikopter.

Guardian News

10 Uhr, Russland erstickt Widerspruch

In Russland gibt es Anzeichen von Widerstand oder Protest. Zu sehen bekommt man sie aber kaum, denn die russische Regierung versucht ihn bereits im Ansatz zu stoppen. Vereinzelte Demonstrierende werden von öffentlichen Plätzen abgeführt, noch bevor sich Gruppen bilden können. Einige Prominente aus der Zivilgesellschaft werden laut Berichten bereits beim Verlassen ihrer Wohnungen verhaftet. Mehr als 200 russische Journalistinnen und Journalisten signieren dennoch einen offenen Brief gegen den Krieg. Das erfordert Mut. Viele von ihnen arbeiten für große Medien, die sich in Russland bereits mit dem Kreml arrangiert hatten. Die oppositionelle Zeitung Nowaja Gaseta wird am folgenden Tag in Russisch und Ukrainisch erscheinen, gibt die Redaktion bekannt.

Was die russische Führung von Widerspruch hält, wird klar, als die Medienbehörde Roskomnadsor de facto einen Zensurerlass herausgibt: Man solle für die Berichterstattung nur offizielle Quellen heranziehen, heißt es. Im weiteren Verlauf des Tages mehren sich dann Berichte von Verhaftungen. Am Abend protestieren in Moskau mehrere Hundert Menschen gegen den Krieg, die Polizei nimmt Dutzende von ihnen fest. Bürgerrechtsorganisationen sprechen da bereits von mindestens 1000 Festgenommenen in über 40 Städten.

11 Uhr, Härteste Sanktionen der EU

"Die EU wird das härteste Sanktionspaket beschließen, das sie je beschlossen hat", sagt der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Um dieses für den EU-Gipfel am Abend vorzubereiten, treffen sich vormittags die Botschafter der 27 EU-Staaten. Unter anderem soll Russland vom internationalen Finanzverkehr ausgeschlossen werden, zudem will man russische Vermögen einfrieren. Der Markt reagiert auf all das. Praktisch zeitgleich mit der EU beraten sich auch die Botschafter der Nato-Staaten im Hauptquartier in Brüssel.

Foto: EPA / Dolzhenko

In Kiew fallen derweil Schüsse, als DER STANDARD mit dem Korrespondenten Denis Trubetskoy telefoniert. Auch später, bei der gemeinsamen Aufnahme für den aktuellen Podcast, werden sie zu hören sein. Es sind wohl Warnschüsse ukrainischer Soldaten als Antwort auf einen bewaffneten Passanten. Kurz zuvor hatte die Regierung all jene, die zum Kampf bereit sind, aufgefordert, sich zu melden. Das Militär werde ihnen Waffen ausgeben.

Denis ist in der Nähe des Goldenen Tors in Kiew in Richtung Innenstadt unterwegs. Die Straßen sind nicht leer, viele machen letzte Besorgungen. Nur manche halten sich an die Empfehlungen des Präsidenten, zu Hause zu bleiben und sich den Weg zum nächsten Luftschutzbunker einzuprägen.

In der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk schaut Veronica, deren Namen die Redaktion auch geändert hat, aus dem Fenster ihrer Wohnung. Sie sieht Rauch, der vom Flughafen aufsteigt. Auch hier wurde "militärische Infrastruktur" angegriffen, heißt es.

12 Uhr, Rückzieher europäischer Ex-Politiker

Ex-Kanzler Christian Kern arbeitet ab sofort nicht mehr im Aufsichtsrat der russischen Staatsbahn (RZD). Das sagt er dem STANDARD auf Nachfrage. Diese sei "seit heute Nacht" Teil einer Kriegslogistik geworden, was er bedauere. Auf Fotos des Aufmarsches aus vergangenen Wochen waren allerdings auch schon immer wieder Loks und auch Wagen der RZD zu sehen. Auch andere Rückzieher gibt es: Italiens Ex-Premier Matteo Renzi ist nicht mehr bei der Carsharing-Gruppe Delimobil, der FC Schalke 04 überdenkt seine Partnerschaft mit der russischen Gazprom. Und der Fußballverband Uefa plant laut Meldungen das in Sankt Petersburg angesetzte Finale der Champions Leage am 28. Mai an einen anderen Spielort zu verlegen.

Warten auf den Zug mit Evakuierten aus dem Donbass. Russland brachte sie vorigen Freitag aus der ukrainischen "Separatistenrepublik" hinaus, der Vorfall war dazu gedacht, die Spannungen anzuheizen.
Foto: Imago / SNA

Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel will weiterhin im Aufsichtsrat von Lukoil bleiben. Österreichs aktueller Kanzler Karl Nehammer berichtet indes, er habe soeben mit Selenskyj telefoniert. Dieser habe ihm unter anderem gesagt, er wisse nicht, wie lang er noch leben werde. Nehammer habe ihm Solidarität ausgesprochen.

13 Uhr, Putin-Angebot

Wladimir Putin meldet sich via Kreml-Sprecher Dmitri Peskow mit einem "Angebot" zu Wort. Er sei bereit, mit der Ukraine zu verhandeln, lässt er wissen; allerdings nur über deren vollständige Neutralität und über den Verzicht, Offensivsysteme auf ihrem Territorium zu stationieren. Eine Antwort aus Kiew auf diese Forderung, deren Erfüllung einer Kapitulation gleichkäme, gibt es nicht. Dort hat man schon zuvor den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Moskau gemeldet.

Am Kiewer Stadtrand gibt es indes Großalarm. Russische Helikopter tauchen über dem Flugfeld von Hostomel auf. Offenbar versucht Russland in jenem Gebiet, das noch die Ukraine kontrolliert, kritische Punkte unter Kontrolle zu bringen. Die militärische Lage bleibt aber unübersichtlich. Im Osten des Landes, wo besonders gut ausgebildete Einheiten Ukraine stationiert waren, toben Kämpfe – und offenbar auch an der nördlichen Grenze Richtung Kiew. Im Süden, wo russische Truppen von der Krim aus vorstoßen, scheint der Widerstand weniger gut zu halten. Chinas Chefdiplomat Wang Yi gesteht Russland indes zu, "legitime Sicherheitsinteressen" zu verfolgen.

14 Uhr, Freiwilligenaufruf

In Meldungen aus Kiew ist erneut von langen Schlangen die Rede. Diesmal, so berichten es zumindest Kiewer Medien, sollen sie sich vor dem Registrierungsbüro für Freiwilligen Wehrdienst befinden.

Bestätigt wurden Schlangen aber auch anderswo: An den Grenzübergängen Richtung Rumänien, Polen und zur Slowakei kommen die ersten Flüchtlinge an. Ein gemeinsames Statement des Europäischen Rats stellt erneut harte Sanktionen in Aussicht.

15 Uhr, Die Zivilbevölkerung deckt sich ein

Olga – auch ihr Name wurde geändert – berät derweil mit ihrer Familie den Notfallplan. Sie leben in der Nähe von Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine am Land. Um fünf Uhr haben die Einschläge sie und ihre Familie aus den Betten geholt: "Das Haus hat gebebt, 40 Minuten lang", berichtet die Unternehmerin. Mittlerweile war ihr Vater einkaufen, hat Gaskartuschen, Taschenlampen, Essen und Wasser besorgt. Noch sind die Preise normal, noch sind die Regale gefüllt. Olga und ihre Familie wollen in ihrem Haus bleiben. Ihr Vater ist zu alt, um das Land zu verlassen.

Raketeneinschlag nahe Charkiw.
Foto: Imago / Ukrinform

Währenddessen sagt im russischen TV die Sprecherin des Außenministeriums Maria Sacharowa, das was in der Ukraine passiere, sei nicht der Beginn eines Krieges, sondern der Versuch, einen Krieg zu stoppen. Im TV ist übrigens nicht von "Krieg gegen die Ukraine" die Rede, sondern von einer "Sonderaktion", um die "Volksrepubliken Donezk und Luhansk" zu schützen. Während sie spricht, treffen neue Meldungen über das Kampfgeschehen ein: Russische Truppen würden beim Atommülllager Tschernobyl aufmarschieren, später sollten sie das gesamte Sperrgebiet erobern.

17 Uhr, Slowakei ermöglicht einfache Einreise

Aus der Slowakei kommt die Meldung, dass die Polizei allen Menschen aus der Ukraine die einfache Einreise gestatten wird. DER STANDARD erreicht noch einmal die Journalistin Natalie Gryvnyak, die von ständigen Explosionen berichtet. Wie man nun helfen könne? "Fordert eure Regierung zu schärferen Reaktionen auf. Wir brauchen Hilfe, physische Hilfe und keine Beileidsbekundungen."

18 Uhr, Ausgangssperre in Kiew

Bürgermeister Witali Klitschko kündigt für die ukrainische Hauptstadt Kiew eine nächtliche Ausgangssperre an. Sie soll zwischen 22 Uhr und 7 Uhr Früh gelten. Menschen, die in dieser Zeit außer Haus sein müssen, müssen entsprechende Dokumente vorlegen.

20 Uhr, Bodentruppen im Land

Inzwischen gibt es laut der Nachrichtenagentur AP auch eine Bestätigung des russischen Verteidigungsministeriums, wonach eigene Bodentruppen in die Ukraine vorgedrungen seien. Bisher hatte Russland lediglich eingeräumt, Luft- und Raketenangriffe auf ukrainische Luftwaffenstützpunkte und andere militärische Einrichtungen geflogen zu haben.

Indes stellt sich US-Präsident Joe Biden in einer Rede in Washington an die Seite Kiews: "Putins Aggression gegen die Ukraine wird Russland am Ende teuer zu stehen kommen, wirtschaftlich und strategisch." Die Aggression könne "nicht unbeantwortet bleiben".

22 Uhr, EU schnürt Sanktionspaket

Die 27 EU-Staats- und Regierungschefs der EU beschließen in Brüssel neue Sanktionen gegen den russischen Finanz-, Energie- und Verkehrssektor. Unter anderem sollen Exportkontrollen eingeführt werden (siehe Seite 4).

Unterdessen haben bereits rund 100.000 Menschen in der Ukraine ihr Zuhause verlassen. Das geht Schätzungen des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR hervor. Mehrere Tausend haben demnach auch schon die Landesgrenzen überschritten, viele davon nach Rumänien und die Republik Moldau.

23 Uhr, Macron telefoniert mit Putin

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist der erste westliche Politiker, der nach dem Einsatzbefehl mit Putin redet. Der Kreml spricht von einem "ernsthaften und offenen Meinungsaustausch". Beide hätten vereinbart, in Kontakt zu bleiben.

24 Uhr, Generalmobilmachung

Präsident Selenskyj ordnet die Generalmobilmachung der ukrainischen Bevölkerung an und meldet 137 Tote und 306 Verletzte.

Wie es weitergeht? Vieles werde davon abhängen, ob der schnelle russische Vorstoß auf Kiew glückt, meinen Fachleute. Auch auf Europas Politik kommen schwere Tage zu: Im Ernstfall könnten bis zu acht Millionen ukrainische Flüchtende die Grenze überschreiten – und auch das Beben an den Finanzmärkten ist noch nicht ausgestanden. (Thomas Mayer, Marlene Erhart, Manuel Escher, Manuela Honsig-Erlenburg, Gerald Schubert, 24.2.2022)