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"Das hat auch seine guten Seiten", sagt Hans Platzgumer, denn es bedeutet auch, weniger zu wollen.

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Als es vor genau zwei Jahren losging mit Corona und unsere Welt plötzlich in dieses große, wenngleich mikroskopisch winzige Unbekannte stürzte, gleich damals in den ersten Tagen dieser Pandemie dachte ich: Oh Gott, jetzt bist du wieder dran. Jetzt wirst du wieder herausgeholt.

Wann immer die Menschen keinen Ausweg sehen und die Hoffnung und den Sinn verlieren, schlägt deine Stunde. Wo wir nicht weiterwissen, da beginnt das Glauben. Ich täuschte mich nicht, schon in der ersten Woche des ersten Lockdowns referierte der Wiener Erzbischof Kardinal Schönborn in der ZiB ausführlichst darüber, dass das Virus keine Strafe Gottes, aber womöglich ein Zeichen Gottes sei. Papst Franziskus legte einen Sondersegen Urbi et orbi im strömenden Regen auf dem menschenleeren Petersplatz ein.

Vor dem Haupttor der Peterskirche wurde das wundertätige "Pestkreuz" aufgestellt, und der slowakische Generalvikar Brodek bestieg ein Flugzeug und flog ein mittelalterliches Tuch, das mit Jesu Christis Blut getränkt sein sollte, über das ganze Land. Die Bischofskonferenz rief die Gläubigen auf, der Kraft dieser Reliquie zu vertrauen und für den Erfolg der Aktion zu beten. Die Kirchen waren zwar wie alles andere geschlossen, aber auch für Gläubige wurde das digitale Angebot rasch ausgebaut. Derartiges ist, wenn auch irrational, so doch verständlich. In der Verunsicherung wendet sich der Mensch an höhere Mächte.

Mysterium und Schrecken

Im Frühjahr 2020, in der Konfrontation mit dem bislang unbekannten und wer wusste schon wie mächtigen Gegenspieler, trat ein Gottvertrauen hervor, das dem modernen, aufgeklärten Menschen und seiner ganz aufs Irdische beschränkten Weltsicht eigentlich widersprach. Kurz blitzte in der Gesellschaft eine Demut auf, die ihr längst abhandengekommen war.

Lange aber hielt die neu erwachte Hinwendung zu göttlichem Beistand nicht. Heute sind die Gotteshäuser zwar wieder geöffnet, aber leerer denn je – nicht nur weil neue Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche an die Öffentlichkeit gelangten, sondern weil das Virus wissenschaftlich enträtselt geworden ist und ihm dadurch Mysterium und Schrecken genommen sind.

Die kurzweilige Gottergebenheit steht in einer Reihe von Tugenden, die mit Beginn der Pandemie, ähnlich Neujahrsvorsätzen, hervortraten und nach und nach wieder in Vergessenheit gerieten. Die Menschen wollten wieder gesünder und achtsamer leben, rücksichtsvoller miteinander umgehen, mehr lesen, mit dem Rauchen aufhören oder weniger Ressourcen verbrauchen. Ein Aufruf zu Zusammenhalt ging durch die Bevölkerung. Was ist davon heute noch übrig?

Läuterung des Menschen

Auch ich fing, mit Corona konfrontiert, sofort zu glauben an. Die Dimension dieses Einschlags ergriff mich, auch wenn ich meine hehren Wünsche weniger in das Göttliche, sondern das Menschliche legte, das nun endlich wieder Raum finden könnte hervorzutreten, nachdem unsere Welt in den düsteren 2010er-Jahren, angetrieben von einem entmenschlichten Wirtschaftssystem und rechtspopulistischer Propaganda, an den Abgrund gerutscht war.

Auch ohne himmlische Intervention, rein auf natürlichem Weg könnte dieses Virus die exzessive, selbstsüchtige Konsumgesellschaft, die wir geworden waren, zur Besinnung bringen, meinte ich. Ich glaubte an die Läuterung des Menschen. Corona sollte uns zu neuer Bescheidenheit und endlich dazu zwingen, mit all dem Unfug aufzuhören, den wir uns angewöhnt hatten, der niemandem guttat außer ein paar Gewissenlosen, die sich daran bereicherten.

Ich war nicht allein mit dieser Auffassung. Viele verstanden Corona als Weckruf zum spätestmöglichen Zeitpunkt, als Lernfenster. Sogar rechtskonservative Politiker wie unser damaliger Bundeskanzler ließen sich zu Aussagen hinreißen wie: "Wir werden von nun an unsere Lebensführung vollständig ändern müssen." Der bayerische Ministerpräsident rundete Ähnliches mit einem Stoßgebet und den Worten "Gott schütze unsere Heimat" ab. Durch fast alle Lager war man sich einig: So wie bisher durfte es nicht weitergehen.

Kapitalistisches Kamikazeprojekt

Die Prä-Corona-Welt hatte keine Zukunft mehr gehabt. Sie war in ein kapitalistisches Kamikazeprojekt ausgeartet, hatte aus grenzenloser Ausbeutung, Zerstörung, Diskriminierung, aus rasender Ungleichheit, dreisten Behauptungen und chauvinistischem Eigensinn bestanden.

Unser Weltordnungssystem hatte die Welt in weiten Teilen zur Hölle gemacht, hatte das Klima des Planeten zum Kippen gebracht, einen Landstrich nach dem anderen verwüstet und zu himmelschreiender Ungerechtigkeit, Armut, Elend und nicht enden könnenden Flüchtlingsströmen geführt.

Die vom Bulletin Board der Atomwissenschaftler ins Leben gerufene "Weltuntergangsuhr", die seit 1947 die aktuelle Gefahr der Selbstauslöschung unserer Zivilisation durch Krieg oder Klimakatastrophen symbolisierte, war auf "100 Sekunden vor zwölf" gestellt worden. So nah der Apokalypse waren wir nie zuvor gekommen.

Das weltweite Aufrüsten hatte einen historischen Höchststand erreicht, ebenso der CO2-Ausstoß. Hitzerekorde, Dürren, Rodungen, Waldbrände, Plastikmüll, ein Ökozid in unvorstellbaren Dimensionen, rascheres Abschmelzen der Gletscher als angenommen, Cyberkriege und eine zersetzende Unterwanderung der digitalen Informationsgesellschaft.

Am 23. Jänner 2020 betonte der frühere UN-Generalsekretär Ban Ki Moon das Versagen der Regierungen im Umgang mit diesen Gefahren. Wenige Wochen später wurde im Großteil der Welt die Ausgangssperre ausgerufen. Die Bestie Mensch wurde in ihren Käfig gedrängt. Jetzt war die Chance gekommen, endlich aus der autodestruktiven Routine auszubrechen, in der wir uns verfangen hatten. Wenn nicht jetzt, wann dann? Wohl würde es die letzte Chance sein, die wir bekommen.

Selbstsüchtig und kurzsichtig

Ich blieb beharrlich bei meinem Zweckoptimismus. Bis in den dritten Lockdown hinein hielt ich an der Hoffnung fest, die Pandemie würde einen positiven Effekt auf unsere Einstellung dem Leben gegenüber haben. Noch im zweiten Pandemiejahr dachte ich, das Nicht-enden-Wollen der Krise wäre nötig, um genügend Menschen zur Einsicht zu bringen, wie alternativlos radikale Veränderungen unserer Lebensweise geworden waren.

Vielleicht bedurfte es einfach noch mehr Zeit? Noch immer hatte Corona unser selbstsüchtiges, kurzsichtiges Verhalten nicht in die Knie gezwungen. Doch anstatt sich zu festigen, ermüdeten von Lockdown zu Lockdown die guten Vorsätze, die viele von uns gehabt hatten.

Je länger sich die Entbehrungen bis in den zweiten Corona-Winter hineinzogen, desto mehr zermürbten sie uns. Als einziger Sinn der Enthaltsamkeit blieb der momentane Schutz der Gesundheit und des Gesundheitssystems übrig, darüber hinausgehend machten sich bald nur noch weltfremde Träumer Hoffnungen auf einen positiven Mehrwert der andauernden Krise, Typen wie ich.

Doch wer im zweiten Corona-Winter nach wie vor an einen übergeordneten Nutzen glaubte, den die Menschheit aus der Pandemieerfahrung hätte ziehen können, schlug spätestens mit den dürftigen Ergebnissen der UN-Klimakonferenz in Glasgow im November 2021 auf dem Boden der Realität auf.

Heuchlerische Lippenbekenntnisse

Auch diese Zusammenkunft war als allerletzte Chance für den Planeten bezeichnet worden. Nun hätte sich zeigen müssen, dass durch die Übung in der Pandemie ein Lernprozess eingetreten war. Doch statt längst überfälligen, konkreten Resultaten lieferte die Konferenz heuchlerische Lippenbekenntnisse und verkam zu einem Greenwashing-Event. Genau das, was die Welt am wenigsten brauchen konnte, wurde erreicht: schwammige Verlogenheit, verhüllt in ermüdendem Blabla.

Schon 1987 hatte das Time-Magazin auf dem Cover die überhitzte Erde gezeigt und vor dem Klimawandel gewarnt. 35 Jahre später schieben wir das Problem weiter vor uns her, ohne unsere Lebensweise zu ändern. Einer meiner Freunde flog letzte Woche für zehn Euro von Madrid nach Wien, ein anderer kaufte sich einen Elektro-SUV für den Stadtverkehr, anstatt öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Die Skigebiete locken mit unzähligen Beschneiungsanlagen und neuen Parkplätzen die Massen auf ausgebaute Pisten. Der Individual- und Lkw-Verkehr auf unseren Straßen sind trotz hoher Spritpreise auf ein neues Rekordniveau gestiegen.

Anachronismus

Dass die Unternehmenslogos auf den Transportern inzwischen grün umgefärbt und mit ökologischen Versprechen verziert sind, ändert nichts an ihrem Anachronismus. Das Coronavirus hat uns in den letzten zwei Jahren eine einmalige Chance geboten, endlich mit wirklicher Veränderung anzufangen, aber weiterhin scheinen wir dazu nicht bereit oder nicht in der Lage zu sein. Das dritte Jahr in Folge steht die Weltuntergangsuhr auf 100 Sekunden vor zwölf.

Angesichts der schwelenden Gefahr eines neuen Krieges sogar mitten in Europa und immer bedrohlicher wirkender nuklearer Szenarios vielerorts ist es verwunderlich, dass die Uhr nicht noch weiter vorgerückt ist. Angesichts des nachvollziehbaren Frusts und der Aggressionen, die sich weltweit und mitten unter uns aufgestaut haben, angesichts wachsender Existenzängste selbst in jenen Teilen westlicher Gesellschaften, die bis vor kurzem noch einer Mittelschicht zugerechnet wurden, und bitterster Armut anderswo, angesichts der sich hochschaukelnden Lebenshaltungskosten und des Gefechtfeuers am Horizont sind Resignation, Verzweiflung und Wut höchst verständlich, die große Teile der Bevölkerung erreicht haben.

Ungleichgewicht

Corona hat uns nicht weiterhelfen können, sondern das Ungleichgewicht der Welt potenziert, die Reichen reicher und Armen ärmer gemacht, die Dummen dümmer, die Sturen sturer und die Gierigen gieriger. Die Spaltung der Gesellschaft wurde vorangetrieben, in Österreich ist dies durch andauernde politische Fehlentscheidungen besonders sichtbar.

Die Gräben, die hierzulande aufgerissen wurden, sind tief, insbesondere durch die unausgewogene und kaum noch verhältnismäßig scheinende Idee einer allgemeinen Impfpflicht. Niemand kann zufrieden mit dem Ergebnis von zwei Jahren Pandemiebekämpfung sein.

Ja, tausende Leben, die von der Krankheit bedroht waren, wurden gerettet. Wie viele es sind, vermag niemand zu zählen, ebenso wenig, wie viele Existenzen zerstört wurden. Wie viele Menschen leiden an Long Covid? Wie viele Kinder haben dauerhafte Verhaltensstörungen davongetragen? Wie viele Berufstätige haben gänzlich die Perspektive verloren? Wie viele Menschen haben sich an Unterstützungsgeldern skrupellos bereichert, wie viele sich tatsächlich das Leben genommen?

Die Geschichtsbücher von morgen werden darüber Auskunft geben. Sie werden wenig Rühmliches berichten. Dass die Wissenschaft so schnell wie nie zuvor eine mehr oder weniger taugliche Impfung gegen das Virus hervorbrachte, wird festgehalten werden, und dass diese Impfung von etwa einem Drittel der Bevölkerung abgelehnt wurde. Der Hauptgrund darin scheint im fehlenden Vertrauen zueinander zu liegen.

Verwunderlich ist es nicht, dass die Menschen heute weder der Politik noch börsennotierten Pharmakonzernen vertrauen, und auch umgekehrt ist es klar, dass die Regierung nicht mehr auf die Mithilfe jener großen Bevölkerungsteile vertrauen kann, zu denen sie längst Kontakt verloren hat. Eine in unzählige Blasen ihrer sozialen Medien zerstückelte Gesellschaft zieht nicht an einem Strang. Jeder zieht in die eigene Richtung, und das Einzige, was uns schließlich noch eint, ist die allgemeine Unzufriedenheit, die sich durch alle Schichten zieht.

Wem ist nach Feiern zumute?

Dass die Pandemie nun dank Omikron, einer Virusvariation mit glücklicherweise milden Verläufen, und dank der Impfungen, die verfügbar sind, zu einem Ende finden könnte, bringt kaum noch jemanden zum Jubeln. Derweil wäre es eine großartige Geschichte: Die Menschheit verbucht einen wissenschaftlichen Erfolg und hat gleichzeitig das Glück im Unglück, dass sich das Virus selber schwächt.

Wem aber ist heute nach Feiern zumute? Es macht den Anschein, dass wir, freudlos geworden, die Fähigkeit verloren haben, positiv in die Zukunft zu blicken. Wir betrachten das Kommende aus einer resignativen, fatalistischen Haltung heraus. Die Unbeschwertheit, die Zuversicht, dass sich unsere Lage verbessern wird, scheint abhandengekommen.

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Eine in unzählige Blasen ihrer sozialen Medien zerstückelte Gesellschaft zieht nicht an einem Strang.
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Selbst dem nimmermüden Weltverbesserer in mir kommt mittlerweile die Annahme töricht vor, dass die Menschheit in absehbarer Zeit produktiv und gemeinschaftlich vorankommt. Zu dunkel war der Winter, zu desillusionierend die sozialpolitischen Beobachtungen in der Pandemie, zu omnipräsent unsere hausgemachten Katastrophen. Ein Licht irgendwo da vorne ist schwer zu erkennen. Einzig das Wissen bleibt, dass wir trotz allem die Zukunft nicht kennen. Wenigstens diesen Trost haben wir nach wie vor. Alles könnte anders kommen, als wir es uns vorstellen, nicht nur schlechter, womöglich besser.

Nicht deutlich genug

Der Pessimist ist niemals klüger als der Optimist, er verstellt sich höchstens selber den Weg. Es wäre dumm, dies zu tun, und nach wie vor zu früh, das Bemühen für eine konstruktive, friedliche Neugestaltung der Welt aufzugeben. Noch sind wir nicht in der Apokalypse angekommen, auch wenn wir die Jahrhundertchance, die uns Corona gab, nicht zu nützen wussten. Zu festgefahren waren wir in Mustern, zu behäbig, störrisch, unwillig und unflexibel.

Sollte Kardinal Schönborn, wie erwähnt, recht gehabt haben, dass Corona als ein Zeichen Gottes zu verstehen war, dieses Zeichen war nicht deutlich genug. Wir haben es nicht verstanden. Agnostiker, der ich bin, fehlt mir die Gabe, auf das Walten und Lenken Gottes ernsthaft zu vertrauen, und doch kann ich eine gewisse Schicksalsergebenheit nicht verleugnen, die sich seit Corona in mir etabliert hat.

Hat der Fatalismus, der im Lauf der letzten, von Ungewissheit und dem Gefühl des Ausgeliefertseins geprägten Monate so viele in meiner Umgebung ergriffen hat, nun endlich auch mich erreicht? Habe auch ich aufgegeben, aktiv am Lauf der Dinge teilzunehmen? Falls ja, es muss ein schleichender Prozess gewesen sein.

Weniger ist mehr

Still, heimlich hat er sich vollzogen, still, heimlich hat die Pandemie eine Veränderung in mir bewirkt. Ich gehe heute nicht länger davon aus, dass ich erreichen kann, was ich mir vornehme. Dinge, Orte, Erfolge, ich sehe ein, dass mir Grenzen gesetzt sind. Ich kann die Umstände nicht beeinflussen und finde mich damit ab. Etwas in mir hat erkannt, dass ich mich mit weniger zufriedengeben muss und kann, als ich früher erwartete.

Eine Gelassenheit hat sich entwickelt, und ich erkenne diese als Anzeichen einer neuen Genügsamkeit. Corona hat mich gebrochen. Und das ist eine gute Sache. Ich verlange nicht mehr von allem so viel und schnell wie möglich, nein, ich bin froh, wenn mir überhaupt noch etwas bleibt.

Das Rasen, die Gier, das Lechzen nach Spektakeln, es ist auf der Strecke geblieben. Und genau in diesem Weniger, das ich vom Leben nach Corona verlange, steckt ein Mehr. Genau die Lektion, die ich hoffte, Corona würde sie den unersättlichen Menschen erteilen, genau dieses Herunterfahren, das ich als Erfahrung für den hyperventilierenden modernen Menschen in seinem Hamsterrad herbeisehnte, zeigt erste Anzeichen, nicht nur in mir, sondern auch in der um mich herum nicht mehr wirklich funktionierenden Welt.

Nicht nur die Lieferketten, auch in unserem Elan, unserer Motivation ist etwas aus dem Rhythmus geraten. Corona hat etwas in mir zerstört, meinen Motor ins Stocken gebracht, und ich empfinde die neue Leere, die so entstanden ist, dieses Loch in meiner Welt als etwas, das ich bereit bin anzunehmen. Es ist etwas, das mich als Teil der westlichen Überflussgesellschaft, der ich geworden war, weiterbringen könnte in eine neue Zukunft. Weniger ist mehr. Corona war eine Zäsur. Sie ist nicht spurlos an mir vorübergegangen.

An niemandem von uns. (Hans Platzgumer, ALBUM, 26.2.2022)