"Mitten auf hoher See wollten sie an Land gehen. Weil es gar kein Meer gebe, in dem man ertrinken könnte, sagten sie."

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Es fing damit an, dass man sich dabei ertappte, die Lebenserwartung eines Menschen als neue Währung einzusetzen. Denn die Lebenserwartung, wenn sie noch ausreichend hoch war, konnte eingetauscht werden für Schutzwürdigkeit, für Mitgefühl, für eine Bordkarte auf dem Schiff, mit dem man vor zwei Jahren in See stach.

Im Hafen wurde damals am Abend vor dem Auslaufen Begrüßungsmusik gespielt, während die Menschen über die Gangway kamen. Manche sogar unter Applaus. Bunte Fähnchen wurden geschwenkt. Die Kinder lachten und winkten in die Dämmerung hinein.

Wir werden ein paar Wochen, unterwegs sein. Machen Sie es sich gemütlich, das schaffen wir gemeinsam. Verbringen Sie Zeit mit Ihren Lieben, schalten Sie einen Gang zurück, genießen Sie die Fahrt. Keine Angst. Die See ist in unseren westlichen Gewässern ruhig. Gefährlich ist es nur für die Kranken und Alten, schallte es aus den Lautsprechern an Bord.

Kein Witz

Wer schon ein gewisses Alter erreicht hatte, der bekam keine Kabine mehr zugewiesen. Und dann, als man schon auf offenem Meer war, da hieß es, das Schiff drohe zu sinken, wenn man nicht ein paar über Bord werfe. Keine Angst. Nur die Alten. Und die Kranken. Okay, die Schwachen.

Man gehe schon nicht über Bord, wenn man das Essen erst einmal auf der Kabine einnehmen würde. Man lachte über den Witz. Der keiner war.

Bingo und Shuffleboard sind bis auf weiteres gestrichen. Da waren ein paar beleidigt, aber es wurde hingenommen. Das Licht war zumindest für Shuffleboard ohnehin nicht gut genug. Und wer findet Bingo wirklich lustig?

Schlafen, aufstehen, mithelfen im Maschinenraum, Spaziergänge an Deck, essen, schlafen.

Ein Knall durchbricht den Rhythmus der Wellen, hinten am Heck. Ist da schon wieder jemand ins Wasser gefallen? Ja, mach jetzt kein Theater. Komm, geh weiter!

Auf dem Achterdeck schreien sie, dass es kein Meer gibt.

Schlafen, aufstehen, mithelfen im Maschinenraum, Spaziergänge an Deck, essen, schlafen.

Meuterei auf dem Achterdeck

Shuffleboard ist immer noch verboten, aber auf dem Achterdeck spielen sie Meuterei. Nein, das sind ganz normale Passagiere. Verärgert sind sie halt.

Schlafen, aufstehen, mithelfen im Maschinenraum, Spaziergänge an Deck, essen, schlafen.

Ein Knall durchbricht den Rhythmus der Wellen hinten am Heck. Ist da schon wieder jemand ins Wasser gefallen? Ja, ein paar, mach jetzt kein Theater. Komm, geh weiter!

Nach zwei Jahren Irrfahrt auf hoher See, nach Fahren auf Sicht im dichtesten Nebel hast du schon alles gehört: die Obdachlosen, die Dicken, die Kinder. Die Kinder? Auch die Kinder. Wenn sie zu den Kranken zählen, auch die Kinder.

Du musst nicht mehr in der Kabine essen. Komm ruhig raus. Trau dich. Oder fürchtest du dich vielleicht, du Dummerchen?

Man erklärt es dir. In aller Ruhe, damit du es auch verstehst, am Kapitänstisch abends beim Dinner, unten im Maschinenraum, in den Liegestühlen an Deck: Es gingen ja nur die Alten und Kranken über Bord, das müsse man schon verstehen. Da müsse man rational bleiben, sonst gingen ja alle unter.

Komplex und relativ

Unwertes Leben, das haben jetzt aber Sie gesagt! Der Tischnachbar rührt elegant in seinem Martini, während er dir zwischen zwei Gängen erklärt, dass es gar nicht klar sei, ob die Toten am Sturz vom Schiff oder am Wasser in ihren Lungen gestorben seien. Das müsstest du jetzt schon einsehen. Es ist alles komplex. Und relativ. Das sagt auch der Kapitän später nach dem Essen an Deck unter dem Sternenhimmel, wenn er philosophierend den Blick auf den Horizont richtet, den man gar nicht sehen kann.

Aber die Kranken? Kranke könne doch eine ganz normale Lebenserwartung haben – würde man sie nicht mitten in der Nacht auf hoher See ins Meer werfen, wendest du ein. Als ob du jene, die vielleicht nur mehr kurz mitfahren würden, lieber ins Wasser geschmissen hättest. Hättest du auch nicht.

Aber man müsse doch endlich wieder auf Kurs kommen. Zurück zur Normalität. Oder willst du weiter im Dunkeln herumfahren?

Es plantscht immer wieder

Und während man verhandelt, mit jenen, die rational und allwissend den Blick vom Liegestuhl oder von der Brücke auf den nicht sichtbaren Horizont richten, lässig an der Reling lehnend oder geschäftig Kommandos absondernd, planscht es immer wieder lauter oder leiser. Sehr kurz. Hinten am Heck.

Ganz ruhig, das war nur einer mit Bluthochdruck.

Die hatte doch vor ein paar Jahren Krebs.

Und der war aber schon wirklich übergewichtig.

Der hatte Asthma und keinen festen Wohnsitz, kein Wunder.

Die hat Drogen genommen in ihrer Jugend, wusstest du das nicht?

Die? Die war hysterisch. Anstrengende Hypochonderin.

Entschuldige, aber der war eben auch schon über 80!

Die hatte schon seit zwölf Jahren multiple Sklerose, das muss man jetzt nicht aufblasen.

Ein junger Sportler? Na und? Vielleicht war er auch krank und wusste es selbst nicht.

Die saß im Rollstuhl. Warum, weiß ich nicht, hab nie gefragt.

Und kaum hörbar glitt auch ein Kind ins Wasser. Ja, aber das war doch eine Frühgeburt, damals, vor fünf Jahren.

Sogar die Kinder!? Brüllst du. Es antwortet niemand. Im Speisesaal spielt die Band jetzt ein bisschen lauter, die Gläser werden wieder erhoben am Kapitänstisch, an allen Tischen. Ahoi! Kurs halten jetzt. Wohin, sehen wir dann schon.

Da ist nichts

Aber die Fahrt dauerte an, weil nirgends ein Ufer auftauchte, das man ansteuern könnte. Und jene, die zuerst auf allen Decks schon leise gemurmelt hatten, dass alles außer ihrer Meuterei eine Lüge sei, das Meer, was Wasser, der Nebel, das Schiff, die rotteten sich zusammen und forderten das Ende der Fahrt.

Mitten auf hoher See wollten sie an Land gehen. Weil es gar kein Meer gebe, in dem man ertrinken könnte, sagten sie. Um das zu beweisen begannen sie damit, Passagiere und Passagierinnen, die an Deck standen, über die Reling zu werfen. Schau, da passiert nichts, sagten sie. Und als sich das dunkle Wasser hinter den Körpern wieder schloss, sagten sie: Siehst du, da ist nichts.

Der Schiffsarzt Dr. Schumann hielt vorn am Bug Ausschau, ob der Nebel ein Ende haben könnte. Hat der nicht auf der Vera Cruz Dienst gemacht? Vielleicht. Jedenfalls ein Narr, kielholen!, grölte jemand von hinten. Weg war er. Je mehr Tempo das Schiff aufnahm, desto leiser wurde das Planschen der kleinen und großen, der alten und jungen Körper ins Wasser. Wer es noch hörte, wurde von den Mitreisenden beruhigt. Heute waren es nur 40, hinten am Heck. Aber alle krank. Mach dir keine Sorgen.

Dann wurden die Rettungsboote zu Wasser gelassen – vollkommen leer –, und die Schwimmwesten wurden weit hinaus zwischen die Wellen geworfen. Die können wir uns nicht mehr leisten. Die brauchen wir nicht mehr, du musst jetzt vernünftig sein. Wir müssen endlich Ballast abwerfen.

Im letzten Winkel

Die Kranken, Alten und Schwachen, die überlebt hatten, unter den Betten in ihren Kajüten, hinter dem Kühlraum in der Großküche, im letzten Winkel des Maschinenraums, wo niemand mehr nachsieht, die hatten Angst rauszukommen, als die Fahrt zu einem Ende kam. Es war kein Ufer, es war ein Auflaufen in seichtem Gewässer, ohne Vorwarnung. Es rumpelte, und der Kapitän verschüttete seinen Kaffee über seine ganze schöne Uniformjacke. Die Flecken krieg ich nicht mehr raus, fluchte er und zog die Jacke aus.

Frag nicht nach den Toten, du Spaßbremse. Sie wären auch sonst ertrunken. Irgendwann stirbt jeder. Irgendwann darf jeder sterben. Da kannst du jetzt nicht alle anderen verantwortlich machen.

Auf hoher See ertrinkt man eben leicht. Vor allem die Alten, die Kranken, die Schwachen. Und die Kinder? Manchmal auch die Kinder. (Colette M. Schmidt, ALBUM, 27.2.2022)