Corona mischt Familien auf, bringt Freunde und Bekannte auseinander. Gleichzeitig erinnern diese Veränderungen an bereits erlebte. Vielleicht federn Erfahrungen vorangegangener Verluste die Wucht derzeitiger Ereignisse ab, vielleicht auch nicht.

Begonnen hatten die unvermuteten Scheidewege, als ich Anfang 2020 in einer Buchhandlung stand und meine Tochter mir am Telefon mitteilte, dass ihr Austauschsemester in Schanghai wegen des Virus abgesagt worden war. Den passenden Reiseführer stellte ich zurück ins Regal. Anstatt in Schanghai zu studieren, schloss sie ihr Studium ab. Zur Sponsion sollte sich die verstreut lebende Familie in Wien einfinden. Zwei Tage davor wurde die Feier seitens der Universität abgesagt.

Quarantänen

Mein Sohn reiste dennoch aus Paris an, testete sich am Flughafen. Am nächsten Tag spätabends kam das Ergebnis: positiv. Er, der sich in Paris zum Koch ausbilden ließ, verlor Geruchs- und Geschmackssinn. Meine Tochter hielt die Vorschriften zur Quarantäne strikt ein, ihr Bruder durfte sein Zimmer ohne Maske nicht verlassen. Das Essen stellte sie ihm vor die Türe. Ich sagte Lesungen ab, wollte einen Test, rief 1450.

Ein Mann in Schutzanzug, Brille und Maske läutete an der Haustür.
Foto: APA / EXPA / JFK

Die Frau am Telefon gratulierte mir, dass ich die Chance hätte, überhaupt einen zu bekommen. Normalerweise warte man bis zu sechs Tage. Eine Stunde später läutete ein Mann in weißem Schutzanzug, Brille und Maske. Absonderungsbescheide, die damals an Kontaktpersonen verschickt werden sollten, haben wir nie erhalten.

Die Tochter heulte am Telefon, während sie erzählte, dass sie ihrem Vater, der ebenfalls angereist war, verbieten musste, in die Wohnung zu kommen. Er glaubte nicht an Corona, hatte weder einen Test bei der Einreise gemacht, noch ließ er sich von der Erkrankung des Sohnes beeindrucken. Monatelang wird er ohne Vorsichtsmaßnahmen zwischen Wien und Berlin pendeln. Nur einmal erwischt es ihn am Flughafen, als er nach Paris will.

Sumpf von Halbmeinungen

Von einem Tag auf den anderen waren die Bestimmungen andere. Da er nur über einen Antigen-Test verfügte, durfte er nicht ins Flugzeug. Inzwischen weiß er, dass Kontrollen mit geborgten Nachweisen von geimpften Freunden auszutricksen wären, denn nicht überall wird nach dem passenden Ausweis gefragt. Er besorgt sich gefälschte QR-Codes, die beim Scannen eine Nachricht aufpoppen lassen, in der der Kontrollierende belehrt wird, dass er keine Angst vor Ungeimpften zu haben brauche, zusammen mit der Ermahnung, diese nicht vorschnell zu verurteilen.

Es stört ihn nicht, Mahlzeiten im Freien einzunehmen. Er friert auch im Winter nicht. Da der Alltag dieser Individualisten immer komplizierter wird, kreisen ihre Gedanken vorwiegend um den Impfstatus, und sie ziehen andere in ihren Sumpf von Halbmeinungen hinein.

Der plötzliche Abbruch von Beziehungen bedingt durch Corona erinnert an frühere Ereignisse. Trennt man sich vom Partner, verliert man damit auch Schwiegereltern, Schwägerinnen und deren Kinder, mit denen man zahlreiche Sommer verbracht hatte. Das soziale Umfeld gerät aus dem Gleichgewicht, Freundschaftsgebäude stürzen in sich zusammen. Zeitlöcher tun sich auf. Betreuungslücken. Abendesseneinladungen bleiben aus. Gemeinsame Ausflüge in die Umgebung bleiben aus. Spielplatztreffen bleiben aus.

Neues Betreuungsnetz

Plötzlich bist du mit den Kleinen, die sich langweilen, allein zu Hause. Auch sie sind den Trubel, die Gesellschaften gewohnt. Du weißt nicht mehr, wohin du sie schicken kannst, wenn du Hilfe brauchst, weil du auswärtige Termine hast, und musst dir ein neues Betreuungsnetz aufbauen. Die meisten Paare mit Kindern, die du kennst, wollen anhand deiner Person nicht daran erinnert sein, dass Beziehungen auch enden können.

Du hast plötzlich doppelt so viel zu tun. Du kannst dir Pflichten nicht mehr teilen. Die Kinder werden lästig, weil sie verunsichert sind. Oder sie werden zu still. Du musst dir Hilfe von außen suchen. Du brauchst jetzt Psychologen, die dir sagen, wie euer Leben weitergehen kann. Und wie nicht. Du brauchst Mediatoren, du brauchst Anwälte. Du brauchst Termine am Jugendamt. Nur die Freunde und Freundinnen, die du bereits vor der Ehe kanntest, halten zu dir.

Die Freunde und Freundinnen, die du über den Partner kennengelernt hast, halten jetzt zu ihm. Die Freunde und Freundinnen, die ihr gemeinsam kennengelernt habt, teilen sich auf in die diejenigen, die noch zusammen sind, und diejenigen, die sich bereits getrennt haben. Die Ersteren laden dich nicht mehr ein. Bei Letzteren hast du vielleicht eine Chance.

Eine Krise macht Strukturen transparent, in denen Brüche bereits existierten, aber durch Gewohnheit kaum wahrgenommen wurden. Der Alltag half darüber hinweg. Es waren Risse, die sich manchmal zeigten, die man aber leichthin übersprang.

Schwäche unerwünscht

Krankheit ist so ein Indikator. Taucht eine lebensbedrohliche Krankheit in der Familie, der Partnerschaft auf, werden Beziehungen samt Verantwortungen neu ausgelotet. Als der Mann einer Freundin mit ALS diagnostiziert wurde, öffnete sich ein Spalt zwischen ihrem und seinem Freundeskreis. Sie gerieten in Konkurrenz darüber, was nun die richtige Vorgehensweise wäre.

Je schwieriger das Leben mit dieser – Bewegungen und Kommunikation allmählich einschränkenden – Krankheit wurde, desto komplizierter gestalteten sich die sozialen Beziehungen. Zusätzlich wurde deutlich, wer von den Freunden überhaupt fähig und willig war, in einer Krise zu helfen. Manche betonten ihr Leiden am Leiden des anderen zu sehr und wurden zur Last.

Ähnliches erlebte ich, als ich mit Hepatitis C diagnostiziert wurde. Auch dieses Virus ist unsichtbar, und ich brauchte mehrere Ärzte, bis ich einen fand, der mir seine Existenz attestieren wollte. Vor dem Bluttest hatte der im Prenzlauer Berg residierende Spezialist mir einreden wollen, ich sei einfach eine frustrierte Künstlerin, er kenne derartige Symptome in diesem Bezirk zur Genüge. Hätte ich Erfolg, würde ich mich nicht so abgeschlagen fühlen.

Wer hilft

Die Unsichtbarkeit des Virus machte seine Wirksamkeit jedoch nicht weniger gefährlich. Ich musste eine aufwendige Chemotherapie mit extremen Nebenwirkungen auf mich nehmen. Mein Freundes- und Freundinnenkreis reduzierte sich rasch. Einige meinten, die Krankheit wäre durch bloßen Kontakt ansteckend, und ließen meine Kinder nicht mehr mit den ihren spielen. Nicht alle können Schwäche und körperliche Versehrtheit an anderen Menschen ertragen. Gewichtsabnahme, Schwäche, Haarverlust eines Kranken kann eigene Ängste aktivieren.

Wenn du deinen Spaßfaktor verlierst, wozu soll man dich treffen? Alkohol durfte ich keinen trinken, um die Wirksamkeit der Therapie nicht zu gefährden. Schließlich brechen Bekannte den Kontakt zu dir ab, oder du musst selbst reduzieren, denn mit einem Mal wird klar, wer Energie raubt und wer hilft. Zurzeit kann man gar nicht mehr so viele Beziehungen aufbauen, wie man verliert. Der lang andauernde Ausnahmezustand durch Corona verlangt nach wiederholter Justierung, da immer wieder unangekündigt Hindernisse auftauchen.

Zum Beispiel kürzlich. Wieder eine Familienfeier. Mein Vater wurde 85. Längst gibt es Impfungen. Wir sind alle geimpft und damit sicher, glaubte ich. Kinder und Kindeskinder buchen Bahnreisen und Flüge, nehmen Urlaubstage, um sich in Oberösterreich zu treffen. Drei Tage vorher ein Anruf: Die Verwandte, in deren Haus die Feier hätte stattfinden sollen, ist positiv. Sie hatte verabsäumt, uns im Zuge der Planungen über ihren Impfstatus zu informieren.

Aus dem Gleichgewicht

Rasch organisieren wir uns um, kommen in einem Gasthaus zusammen. Keiner wird dort kontrolliert. Als wir nach einem ausgedehnten Spaziergang abends die Region verlassen, wird sie gerade zum Hochrisikogebiet hinaufgestuft. Immerhin haben wir Geimpfte das Geburtstagskind treffen können, ohne ihn und uns zu gefährden. Die positiv getestete Verwandte meint, dass wir übertrieben reagieren.

Als ihre Stieftochter mit fünfmonatigem Baby sie bat, eine Maske aufzusetzen, kam sie dem nur unwillig nach. Sie ist sicher, dass sie keine Gefahr darstellt, ihr Immunsystem durch Kuren und Entgiftungen stark genug, um Viren abzuwehren. Das Problem sei eher unsere Angst, unsere Unmündigkeit. Jeder könne bestimmen, ob er gesund oder krank sei, indem er sich seinem Körper widme, auf ihn höre.

Als im November ein Lockdown für Ungeimpfte beschlossen wird, verkündet die Nachrichtensprecherin am Bildschirm mit betroffenem Gesichtsausdruck, ab heute sei das Land gespalten. Ich ärgere mich. Warum wird Spaltung proklamiert, sobald Maßnahmen gegen Impfunwillige ergriffen werden?

Die Brüchigkeit des Gesellschaftsvertrags, des Generationenvertrags, der Gleichberechtigung, des sozialen Ausgleichs war bereits vor Corona spürbar, man sieht nur in der Krise, wo Zusätzliches aus dem Gleichgewicht gerät, genauer hin.

Verluste zu beiden Seiten

Ich will aber ergründen, was mich am Verhalten der Ungeimpften so stört. Einerseits ist es die Vereinfachung komplexer Zusammenhänge, bedingt aus Angst vor Ungewissheit, eine Angst, die ich mit den Leugnern teile. Andererseits fürchte ich, dass durch den Sog, der von dieser Bewegung ausgeht, an die Dumpfheit, die schlechten Seiten, zu denen Menschen fähig sind, appelliert wird.

Die Häme, der Hass, die üble Nachrede, die Verunglimpfung, das Aufrufen von niedrigen Instinkten durch eine frühere Regierungspartei, deren Diktion an Kärntner Faschingsredner erinnert. Das boshafte Grinsen im Mundwinkel, das ihr Parteivorsitzender nicht unterdrücken kann, ist gruselig.

Dann ist wieder Weihnachten. Oberösterreich kommt aus oben genannten Gründen für ein gemeinsames Fest nicht infrage. Meine geimpften und genesenen Kinder möchten in Paris mit der Familie väterlicherseits feiern. Da Schwägerinnen und Ex-Mann ungeimpft sind, will ich nicht hin. Aha, sind nun die Ungeimpften die Gefährlichen, heißt es daraufhin. Verluste zu beiden Seiten.

Drei Jahre hat mein Sohn in Paris studiert. Ich konnte ihn wegen der ständig wechselnden Gefahrenlage nie besuchen. Wir mussten uns schneller auseinanderleben, als wir nach seinem Auszug eigentlich dachten. Doch ich will mich nicht in Anschuldigungen verlieren. Gibt es nicht etwas, Emotionen vor allem, die uns allen gleich sind? Ich versuche, die Position der Impfunwilligen einzunehmen und zu fühlen wie sie.

Schamanen

Denn Vernunft hilft wenig, wenn ich Menschen verstehen will, die dem Irrationalen verfallen sind. Ich bin entsetzt, als mein Vater von einer psychisch angeschlagenen Verwandten erzählt, die sich von einem Schamanen behandeln ließ, danach ihre Mutter attackierte und die Seele ihres verstorbenen Vaters in der Hauskatze vermutete. Sie landete in der Psychiatrie. Besonders in ländlichen Regionen werden mentale Probleme oft verdrängt oder mit zweifelhaften Naturheilmethoden versucht zu kurieren. Auch aus Angst, sich mit dem Gang zu einem Therapeuten als "verrückt" zu entblößen.

Warum gibt es überhaupt mittlerweile so viele Schamanen am Land? Ich selbst sitze eines Tages in Oberösterreich einem gegenüber, der Nachbar eines Bauernhofs, auf dem ich ein paar Tage verbringe. Er trägt keine Socken zu seinen Sneakers und hat ein eigenes System, die Welt zu bewerten. Wer für jenseitige Sphären offen ist, "hat einen Zugang", sagt er. Sein Job ist es, unter anderem Raiffeisenfilialen von schlechten Einflüssen zu reinigen. Er kann die Beweggründe anderer rasch durchschauen. Als ich ihm von Schreibprojekten erzähle, weiß er gleich, dass ich die Welt retten will. Und das wäre zum Scheitern verurteilt. Eh klar.

Bislang war meine Haltung gegenüber Esoterik pragmatisch: Solange Menschen daran glauben und sonst niemandem schaden, bitte sehr. Alternative Mediziner nehmen sich basierend auf ganzheitlichen Konzepten immerhin mehr Zeit als Schulmediziner. Ihre Methoden sind vielfältiger und bunter als Tabletten.

Dass es ein Wechselspiel zwischen Körper, Geist und Psyche gibt, wurde von den Neurowissenschaften längst bestätigt. Ich ließ mir lieber das Silberwasser meiner Schwägerin auf eine Platzwunde tupfen, als ins Krankenhaus zu fahren, dort stundenlang zu warten, mich weiteren Erregern auszusetzen.

Soziales Kapital

Aufgewachsen in einer Familie, in der körperliche und emotionale Regungen unterdrückt werden mussten, geht man so lange nicht zum Arzt, bis man zusammenbricht. Es ist nur die Frage, was die selbsternannten Heiler aus ihren Ambitionen machen. Handeln sie aus echter Sorge oder Geschäftemacherei? Ausgänge sind in alle Richtungen möglich.

So wie der Professor für Psychoimmunologie mit zahlreicher Anhängerschaft trotz schwerer Corona-Erkrankung weiter an seiner neuesten Publikation arbeitet, in der er beweist, dass dieses Virus harmlos bleibt, solange die Psyche das Immunsystem stärkt. Während er am Atemgerät röchelt, gibt er im Bangen um seine Einkünfte und seinen Ruf den Auftrag, das Buch zu drucken.

Diese Anekdote ist nicht erfunden. Nichts in diesem Text ist erfunden. Mit Familienmitgliedern hört man nicht so schnell auf zu sprechen, sondern hört zu: ihren Argumenten zur Manipulation durch den Staat, zur Gier der Pharmalobby, zur Infragestellung der Demokratie, zur Diskriminierung der Ungeimpften, ihren Wutreden. Auf Handybildschirmen werden selbsternannte Fachleute als Beweis vorgeführt.

Diese Freundinnen und Verwandten üben verschiedene Berufe aus, sie sind Journalistin, früherer Verleger, Autorin, Hausmann, Schmuckdesignerin, Künstler etc., die sich nun im Besitz der Wahrheit befinden. Es sind Menschen, die ich zu kennen glaubte und mit denen mich einmal mehr verband als Angst. Sie brauchen die Impfung nicht, sagen sie, weil sie ohnehin nur zu Hause arbeiten, weil sie am Land leben, im tiefen Tal, oder mit dem Auto fahren und nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie lassen sich nicht gängeln.

Meine Versuche zu verstehen nützen nichts. Weil die Überzeugungen der Impfgegner bloß in eine Richtung weisen. Ist das die Spaltung, von der alle reden? Dass ich keinen "Zugang" in diese besondere Welt habe? Andererseits kann ich mir gut vorstellen, dass die Zusammenkünfte zu Demonstrationen und konspirativen Treffen ein machtvolles soziales Kapital darstellen, das über diffuse Ängste hinweghilft. Widerstandsrausch fühlt sich bestimmt toll an.

In diesem Verschworensein werden die Enttäuschungen des Lebens, die einen ansonsten so plagen, ausgeblendet. Was aber in Menschen vorgeht, die auf ihren angeblich harmlosen Bekundungen Kinder terrorisieren, wie kürzlich vor einem Linzer Hort geschehen, überschreitet meine Vorstellungskraft. Da steige ich aus und hoffe auf die Pflicht. Einig sind sich Gegner und Befürworter ohnehin nur in einem Punkt: im Bedürfnis, endlich ohne das Virus zu leben. Das wäre ein wahrlich willkommener Verlust. (Sabine Scholl, ALBUM, 26.2.2022)