Sich findende und auseinanderfallende Bindungen: "Am Ende Licht" mit Dunja Sowinetz und Norman Hacker (sitzend) und Bardo Böhlefeld und Max Gindorff (groß projiziert, v. li.).

Susanne Hassler-Smith

Die Mutter dreier erwachsener Kinder stirbt infolge einer plötzlichen Gehirnblutung im Getränkegang eines Supermarkts. Das Sterben geht wahllos vor. Christine hat ihr Leben lang vermutlich zu viel getrunken. Diesen Moment des Todes dehnt Simon Stephens in Am Ende Licht zu einem ganzen Theaterstück aus (im Akademietheater dauert er knappe zweieinhalb Stunden). Der britische Dramatiker nutzt dafür ein Motiv, das meist dem Science-Fiction-Film vorbehalten scheint: Die Tote bleibt noch eine Weile da und verabschiedet sich von ihren Lieben – undercover oder als Geist. Wer möchte nicht mit seiner verstorbenen Mutter ein letztes klärendes Gespräch führen können?

In den Nullerjahren lehrte Stephens das deutschsprachige Theater, wie selbst im postdramatischen Zeitalter durchaus klassisch geschriebene Sozialdramen aussehen. Viele seiner Stücke waren damals in Österreich zu sehen: das Heimkehrerdrama Motortown (2008) und das Heathrow-Stück Wastwater (2012), beide im Akademietheater, Harper Regan bei den Salzburger Festspielen 2008 sowie Am Strand der weiten Welt (2007) und Punk Rock (2011) im Volkstheater. Stephens war damals zu Recht der erfolgreichste lebende Dramatiker Englands. Er hat den Hype bis zum heutigen Tag gut überstanden.

Gleichzeitigkeit

Seine Spezialität sind Familienaufstellungen in Miniaturszenen, die pfeilschnell zum wunden Punkt vordringen, sparsame Begegnungen in reigenhaften Dramaturgien, das Überblenden von Schauplätzen. In Am Ende Licht nun verdichtet sich alles so weit, dass eine Synchronizität der Ereignisse erreicht wird. Das Stück wurde 2019 in Manchester uraufgeführt und erlebte am Donnerstagabend in Anwesenheit des sichtlich erfreuten und gelösten Autors österreichische Erstaufführung im Akademietheater (deutsche Übersetzung: Barbara Christ).

Und tatsächlich ist hier etwas gelungen: Die Hamburger Regisseurin Lilja Rupprecht betrachtet in ihrer ersten Inszenierung am Burgtheater das Leben als so surreal, wie es eben auch ist. Sie montiert aus diversen Elementen eine Bühnenlandschaft (Bühne: Holger Pohl), die in manchen Momenten wie ein Gemälde von Salvador Dalí aussieht. Es sind indefinite Skulpturen (ein vierbeiniges, elefantenbabyhaftes Penistier), flirrende Pixelprojektionen, Bluescreen-Bildschirme und ganz normale Requisiten (Bett), also verschiedene Teile, die, mit dem Musiker Philipp Rohmer mittendrin, ineinanderragen.

Kopfbandagen

Genau so, wie auch Autor Stephens Szenen und Dialoge aus unterschiedlichen Gesprächen schon im Text ineinandergeschoben hat. Da spricht der eine vom Tiramisu, das er jetzt noch speisen möchte, während die andere unmittelbar daneben (aber in Wahrheit entfernt in einer anderen Stadt) im selben Atemzug von der zerstörerischen Alkoholsucht der Mutter erzählt.

Rupprecht zeigt aber noch mehr Surrealismus. Die Figuren tragen ihre Existenzversehrtheit in Form schiefer Frisuren und Bandagen am Kopf (Kostüme: Annelies Vanlaere). Alle haben sie verrutschte Gesichtszüge: der Vater und Ehemann (Norman Hacker), der sich mit zwei Frauen (Dunja Sowinetz, Stefanie Dvorak) zum Sex im Hotel trifft; Tochter Jess (Marie-Luise Stockinger), die nicht mehr allein schlafen kann und sich deshalb in verzweifeltem Takt Männer wie Michael (Philipp Hauß) mit nach Hause nimmt.

Sohn Steven (Max Gindorff) ringt mit seinem Studium, aber auch mit Eifersucht wegen seines oft abwesenden Flugbegleiterfreunds (Bardo Böhlefeld); und die suizidale Tochter Ashe (Maresi Riegner), Alleinerzieherin ihres zweijährigen Sohnes, trennt sich in einer Verzweiflungsattacke von ihrem Junkiefreund (Sebastian Klein), der den Unterhalt nie zahlen kann.

Sie alle, zehn Darstellerinnen und Darsteller, sind dabei meist gleichzeitig auf der Bühne. Nur die un tote Mutter (Dorothee Hartinger) sucht nach einem fulminanten Monolog zu Beginn die Schauplätze ihrer Kinder und ihres Mannes nur mehr in kurzen Momenten undercover als Kellnerin auf – um noch einmal zu beschwichtigen oder letzte Dinge zu sagen oder um ihren Lieben einfach noch einmal ins Gesicht zu blicken.

Gemeinsames Überwinden

Am Ende Licht ist also nicht die Tragödie einer Frau aus prekären familiären Verhältnissen, verhandelt auch nicht die Tragik des Ablebens an sich, sondern ist ein Drama über das gemeinsame Überwinden von existenziellen Zwangslagen. Das sozialpolitisch ausgehungerte England der Gegenwart schimmert da nur entfernt durch – null Stigmatisierung. Die durch ihre Masken in unbestimmtem Grad deformierten Figuren lassen hier viele Assoziationsmöglichkeiten offen, und das ist spannend. (Margarete Affenzeller, 25.2.2022)