Durch die Kameralinse auf die eigene Kindheit blicken: Regisseur Kenneth Branagh mit seinen Darstellern am Set von "Belfast".

Foto: Focus Features

In seinem bisher persönlichsten Film kehrt Kenneth Branagh in die Stadt seiner Kindheit im Jahr 1969 zurück. Belfast erzählt davon, wie die Ausschreitungen zwischen Katholiken und Protestanten eine fast perfekte "dörfliche" Idylle zerstören. Die Perspektive ist nicht politisch, vielmehr sanft nostalgisch, schwärmerisch, bisweilen überhitzt, immer privat: Es ist jene des neunjährigen Buddy (Jude Hill), der zwischen Mutproben und der Herzensgüte seiner Großeltern eigene Wege findet, mit den Erschütterungen umzugehen.

Branaghs in Schwarz-Weiß gedrehte Rückbesinnung ist auch ein Film über Anfänge: Er verrät, wo die Wiege seines Künstlerdaseins steht. Ein Gespräch über die autobiografischen Hintergründe seines Films, der mit sieben Nominierungen einer der Oscar-Favoriten ist.

STANDARD: Man kennt Sie als Interpreten von meist populären Stoffen. Warum dachten Sie, es sei an der Zeit, Ihre eigene Geschichte zu erzählen?

Branagh: Ich wollte seit vielen Jahren etwas über meine Geburtsstadt Belfast schreiben, wusste aber nie genau, wie ich beginnen sollte. Dann kam der Lockdown und damit ein starkes Gefühl von Introspektion. Das Leben wurde wortwörtlich stiller, beim Spazieren mit dem Hund hatte ich den Eindruck, eine neue Welt zu sehen. Ich arbeite in einem Schuppen in meinem Garten, das brachte mich wie von selbst zu einem anderen Lockdown. Die Belfast-Geschichte hat sich rund um die zwei Barrikaden der Straße meiner Kindheit geformt. Dazwischen entstand unsere Burg.

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STANDARD: Bedeutete der Nordirlandkonflikt für Sie so etwas wie dasEnde der Kindheit?

Branagh: Am Anfang des Films zeige ich, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind aufzuziehen. Es gibt eine Gemeinschaft, man kennt einander, das hat Vor- und Nachteile. Und dann dringt in wenigen, surrealen Slow-Motion-Momenten dieser Lärm in die Ohren – ich dachte damals, das seien Hummeln. Aber es war ein randalierender Mob. Ich steckte unter dem Tisch, wurde panisch. Als ich wieder aufstand, war der Boden ein anderer, alle Pflastersteine waren verschwunden, nur noch Sand.

STANDARD: Hat Sie das traumatisiert?

Branagh: Es war wirklich schwierig. Man passt sich dann irgendwie an. Ich musste mich an- und abmelden, wenn ich die Straße betrat. Zugleich verdoppelte ich meine Anstrengungen, um mich auf das zu konzentrieren, was mich interessierte: ein Mädchen, für das man schwärmt, Fußball, Fernsehen und Kino – in all dem suchte ich Zuflucht.

STANDARD: Im deutschsprachigen Raum gilt Heimat als belasteter Begriff. Er ist generell flüchtig und dadurch schwer fassbar. Was bedeutet er für Sie?

Branagh: Das habe ich zu erforschen versucht! Wenn der Bub auf dem Sofa schreit, dass er Belfast mit seinen Eltern nicht verlassen will, dann sagt er damit zugleich, dass er nicht aufwachsen möchte – er will nicht wurzellos sein, nicht durch das Leben mit diesen Ungewissheiten marschieren. Das Leben scheint sich nur um Verlust zu drehen: Man verliert eine Straße, seine Identität, jemanden, den man liebt. So klischeehaft es erscheinen mag, es läuft darauf hinaus, dass man sein Zuhause in sich selbst bewahren muss. Damit es mit dir reist und zur Erinnerung von Momenten und Verbindungen wird. Nicht unbedingt ein Ort, sondern eine Sehnsucht, eine großzügige Liebe.

STANDARD: Welche Rolle nahm das Kino in diesem Kontext ein? Es gibt auch schöne Filmreferenzen in "Belfast", an John Ford, aber auch an Fred Zinnemanns "High Noon".

Branagh: Als Kind lernte ich das erste Mal diese Gesichter kennen. Damals waren es wirklich nur Gesichter. Es stellte sich heraus, dass einer davon Cary Cooper war: stark, schweigsam; spielte immer den Guten. Dann Lee Marvin, den ich sehr verehrte, oder Lee Van Cleef, der immer die Bösen spielte. James Stewart, ein komplizierterer Fall. Eines der größten Erlebnisse meines Berufslebens war auf dem Set meines ersten Films, Henry V., als mich Paul Scofield fragte, ob er einen Freund zu Besuch in die Shepperton Studios bringen könnte. Das war Fred Zinnemann. Ich war damals 27 Jahre alt. High Noon ist einer der großen Klassiker, 90 Minuten, die exemplarisch dafür sind, wie viel Kraft man in eine einzige Geschichte stecken kann. Der Mann des Gesetzes, allein, belastet, heroisch.

Kenneth Branagh (61) ist ein britischer Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur. Er wurde mit Shakespeare-Verfilmungen bekannt, zuletzt war er auch als Meisterdetektiv Hercule Poirot in "Der Tod auf dem Nil" zu sehen.
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STANDARD: Der Film erkundet Familienbande, die Großeltern sind wichtig – Judi Dench und Ciarán Hinds waren Fixstarter, richtig?

Branagh: Ja, Ciarán wurde weniger als eine Meile entfernt von dem Ort geboren, wo ich selbst auf die Welt kam. Wir sind auf denselben Straßen groß geworden. Als er das erste Mal sein Kostüm anprobierte, meinte er, er sehe wie sein Vater aus. Judys Eltern kommen aus dem Süden Irlands. Sie hat eine starke Erinnerung daran, wie sie dorthin mit ihren Eltern zurückkehrte. Sie waren alle sehr aufgelöst. Judy ist umhüllt von dieser irischen Leidenschaft. Beide konnten großartig mit dem jungen Jude Hill spielen.

STANDARD: Es gibt eine sehr schöne Szene über ihre eigenen Erinnerungen.

Branagh: Das kommt wohl von der irischen Neigung, tief in das Glas der Erinnerungen zu blicken. Regelmäßiger als andere ... In dieser Generation gab es aufgrund der Härte des Arbeiterlebens dieses Erstaunen darüber, dass sie es bis in dieses hohe Alter geschafft hatten. Das Leben erschien ihnen wie ein Wunder.

STANDARD: Ihr Film ist weit entfernt vom britischen Sozialrealismus. Siehaben in Schwarz-Weiß gedreht, Ihre Eltern wirken richtig glamourös. Warum diese Stilisierung?

Branagh: Meine Eltern waren nicht so hübsch wie Jamie Dornan und Caitríona Balfe, aber sie hatten eine elektrisierende Leidenschaft – zumindest in den Augen eines Neunjährigen. Das Geschirr flog tatsächlich durch die Küche. Und sie tanzten gerne. Das Schwarz-Weiß ist ein poetisierender Glanz, die Inspiration dafür waren Fotografien von Henri Cartier-Bresson. Prosaische Orte erhalten eine epische Tiefe. Das erscheint seltsamerweise realer, obwohl wir die Welt gar nicht so wahrnehmen.

STANDARD: Warum haben Sie "Belfast" im Studio neu aufgebaut und nicht vor Ort gedreht?

Branagh: Ein Wort: Covid. Wir musste ja die Stadt von 1969 darstellen, und das hätte geheißen, sehr vieles ändern zu müssen. Ich wäre gern zurück auf die Straßen gegangen, auf denen ich aufgewachsen bin, aber meine Hälfte ist ohnehin abgerissen worden. Die Geschichte flüsterte mir zu: "Bau es auf! Find den Mythos, kümmer dich nicht um das Wörtliche." (Dominik Kamalzadeh, 27.2.2022)