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Putin im Kriegsmodus: Mit dem Überfall auf die Ukraine hat er die europäische Friedensordnung nachhaltig zerstört.

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Die jahrelange Partnerschaft zwischen Washington und Moskau war schon zuvor zerbrochen, die Rhetorik aus dem Kreml wurde ständig aggressiver, die Warnungen aus dem Weißen Haus immer dringlicher. Doch dann setzte der russische Machthaber einen Schritt gegen eine demokratisch gewählte Regierung, der die westliche Welt schockierte und jede Hoffnung auf friedliche Zusammenarbeit zerstörte.

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Februar 2022 in der Ukraine? Ja, aber auch Februar 1948 in der Tschechoslowakei. Vor 74 Jahren putschten sich die Kommunisten in Prag an die Macht und löschten damit den letzten Zweifel darüber aus, dass Stalin ganz Osteuropa unterjochen wolle. Bald darauf wurde die Nato gegründet, die deutsche Teilung einzementiert, und der Kalte Krieg begann, der erst 50 Jahre später beendet wurde.

An seine Stelle trat 1989 die Vision einer neuen Weltordnung, die auf friedlicher Zusammenarbeit und Respekt für das Völkerrecht basiert. Und die hat Wladimir Putin am 24. Februar 2022 mit seinem Angriff auf die Ukraine begraben. Der Kalte Krieg ist zurück in Europa.

Zwei Prinzipien

Diesmal ist es keine Konfrontation zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sondern zwischen zwei gegensätzlichen Prinzipien der internationalen Politik: dem Primat der militärischen Macht, das Jahrtausende das Weltgeschehen bestimmte, und einer modernen Überzeugung, dass die Menschheit nur überleben kann, wenn sie auf Grundlage verbindlicher Regeln zusammenarbeitet. Putin ist ein böser Geist aus Europas Vergangenheit, der bereits gebannt schien und nun mit brutaler Kraft wiederkehrt.

Wie es am ukrainischen Schlachtfeld weitergeht, darüber sind sich Militärstrategen einig: Die Ukraine hat den russischen Streitkräften kaum etwas entgegenzusetzen. Und genauso wie in den 1940er-Jahren hüten sich die USA vor einem militärischen Eingreifen gegen die russische Armee.

Die Frage ist nun: Wozu ist Europa bereit, welchen Preis will es für seine künftige Sicherheit zahlen? Vorerst wirkt die EU-Spitze mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und den Staats- und Regierungschefs geeint und entschlossen, Putins Aggression hart zu sanktionieren.
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Auch wird derzeit nicht damit gerechnet, dass Putin den Krieg über die Grenzen der Ukraine hinausträgt und Nato-Staaten bedroht, was die USA zum militärischen Beistand zwingen würde. Eine direkte Konfrontation der Atommächte, die einen dritten Weltkrieg auslösen könnte, ist unwahrscheinlich. Aber sonst sind dem Schrecken, der Europa nun erwartet, wenige Grenzen gesetzt.

Paranoia in Moskau

Die Parallelen zu 1948 sind zahlreich. In Moskau herrscht ein paranoider Diktator, der kein Mittel scheut, um seine Ziele durchzusetzen. Die Vernunft und die Vorsicht, die ihm – genauso wie einst Stalin – viele im Westen zugeschrieben hatten, erwiesen sich als Fassade.

Putins Mischung aus Verfolgungswahn und Aggression ist in der russischen Geschichte tief verwurzelt. Schon die Zaren sahen ihre Sicherheit nur gewährleistet, wenn sie riesige Gebiete rund um ihr moskowitisches Kernland beherrschten und als Großmacht auf der Weltbühne respektiert wurden. Die sowjetischen Machthaber folgten der gleichen Maxime, und aus heutiger Sicht wirkt die kurze Phase, als Michail Gorbatschow und Boris Jelzin Russlands Sicherheit in der Zusammenarbeit mit dem Westen suchten, wie eine Anomalie.

Diese Interpretation der russischen Politik fand einst seinen Niederschlag im "langen Telegramm", das der US-Diplomat George Kennan 1946 aus Moskau nach Washington sandte und die Strategie der USA auf Jahrzehnte prägte. Russland fühle sich als ewiges Opfer äußerer Feinde, sehe sich in einem permanenten Kriegszustand mit dem Westen und könne nur durch eine langfristige Politik der Eindämmung von weiteren Aggressionen abgehalten werden, schrieb Kennan. Am Ende werde die sowjetische Herrschaft an ihren inneren Widersprüchen zerbrechen, zeigte sich Kennan überzeugt. Er behielt recht, wenn auch erst 40 Jahre später.

Strategie des langen Atems

Auch heute müssen sich die USA und die EU auf eine solche Strategie des langen Atems einstellen. Selbst die schärfsten Wirtschaftssanktionen werden Putin nicht von seinem Aggressionskurs abbringen. Aber hinnehmen kann der Westen den neuen russischen Kurs auch nicht. Putins Ideologie der nackten Machtausübung ist mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, auf dem die EU basiert, genauso unvereinbar wie mit der universellen Geltung der Menschenrechte, der sich die liberalen Demokratien verschrieben haben. Solange Putin in Moskau regiert, herrscht Eiszeit in Europa.

Doch vieles ist auch anders als bei Beginn des ersten Kalten Krieges. Vor allem ist Putins Russland schwächer als Stalins Sowjetunion, und der Westen ist besser aufgestellt als damals.

Westeuropa ist heute kein kriegszerstörter Trümmerhaufen, sondern politisch stabil, wirtschaftlich stark und überraschend geeint. Anders als von vielen prognostiziert, schweißt die neue russische Bedrohung die EU zusammen, statt sie zu spalten.

Putin fehlt, anders als Stalin und seinen Erben, eine attraktive universelle Ideologie, die ihm international Verbündete bringt. Großrussischer Nationalismus hat wenig Anziehungskraft außerhalb der eigenen Grenzen. Und selbst unter den borniertesten Rechtspopulisten kennt die Putin-Verehrung Grenzen.

Und Putins innere Macht ist weitaus fragiler als die der Kommunisten. Er hat zwar in den vergangenen Jahren jeden politischen Dissens im Land ausgeschaltet, aber die Legitimität seiner Herrschaft baut immer noch weniger auf Repression als auf Popularität auf, die durch wirtschaftliche Rückschläge und internationale Isolierung gefährdet wird.

Ende der Stabilität

In den 22 Jahren seiner Herrschaft haben die Russen nach den chaotischen Jahren unter Gorbatschow und Jelzin bei Putin vor allem eines geschätzt: Er gab ihnen Stabilität und Berechenbarkeit. Die Annexion der Halbinsel Krim hat zwar 2014 eine nationalistische Euphorie ausgelöst, aber für einen offenen Krieg gegen eine Brudernation mit nachfolgender Besatzung dürfte die Begeisterung ausbleiben. Dass sich trotz der massiven Repression bereits am ersten Tag zahlreiche Russen auf die Straße wagten, um gegen den Angriff zu protestieren, ist ein schlechtes Omen für einen nationalen Schulterschluss.

Selbst innerhalb der engsten Führungsclique ist es fraglich, ob Putins Rechtfertigungen für den Angriff auf die Ukraine geglaubt werden. Jedenfalls ist Putin nicht wie einst Stalin von überzeugten Revolutionären umgeben, sondern von einer unter ihm reich gewordenen Elite, die wohl ungern auf die Früchte des neuen Wohlstands verzichten will.

Mit der Ausnahme von Belarus, dessen Diktator Alexander Lukaschenko sich nur dank russischer Hilfe an die Macht klammert, kann Putin auf keine Verbündeten in seiner Nachbarschaft zählen. Denn wenn auch mancher Autokrat die Abneigung gegenüber den USA mit Putin teilt, so will er auch nicht zu dessen Vasallen degradiert werden.

Chinas Zurückhaltung

Mit China hat Russland heute einen viel wertvolleren Verbündeten auf seiner Seite als einst die Sowjetunion. Genauso wie Putin sieht Xi Jinping die USA als größten strategischen Gegner – und den demokratischen Westen als potenzielle Bedrohung seiner inneren Macht.

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Mit China hat Russland heute einen viel wertvolleren Verbündeten auf seiner Seite als einst die Sowjetunion.
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Was für Putin die Ukraine ist, stellt für Xi Taiwan dar – ein westlich orientierter, demokratischer Staat, dem er das Recht auf Souveränität abspricht und den er jederzeit militärisch vernichten könnte. Und tatsächlich ist eines der schlimmsten Szenarien, mit denen sich US-Präsident Joe Biden nun auseinandersetzen muss, dass Xi dem Beispiel Putins folgt und Taiwan angreift und besetzt. Schon allein deshalb kann Biden die Zerstörung der demokratischen Ukraine nicht tatenlos zusehen.

Dennoch ist Chinas Bündnistreue zu Russland nicht ganz gewiss. Denn dort ist die territoriale Integrität von Staaten ein zentraler Grundsatz seiner Politik. Zu oft hat es in seiner Geschichte erlebt, wie es von äußeren Mächten zerstückelt wurde.

In Peking muss die Art und Weise, wie Putin sich immer mehr Gebiete aus der Ukraine herausreißt, alte historische Ängste beleben. Und auch Putins deklariertes Ziel eines Regimewechsels in Kiew widerspricht dem vielleicht wichtigsten außenpolitischen Prinzip der chinesischen KP: der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten.

Marionettenregierung

Wie wird sich dieser Kalte Krieg entwickeln? Putins Ambitionen und Strategie sind relativ klar: die Eroberung der gesamten Ukraine und die Einsetzung einer Marionettenregierung, die sich der russischen Vorherrschaft unterordnet. Vieles wird davon abhängen, wie viel Widerstand die Ukrainer leisten können und werden.

Wird Kiew rasch fallen, werden die russischen Truppen das ganze Land besetzen? Oder kann der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj einer Gefangennahme entkommen und von der Westukraine aus den Kampf fortsetzen?

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Kommt es zur Teilung der Ukraine, würden Nato-Staaten voraussichtlich weiter Waffen liefern und vor allem die USA noch aktivere Hilfestellung leisten, etwa durch militärische Berater oder technisches Personal. Für Biden ist der Ukraine -Krieg die Chance, die Schlappe des katastrophalen Rückzugs aus Afghanistan wiedergutzumachen und die Rolle der USA als westliche Führungsmacht zu festigen.

Doch darf er nicht zulassen, dass Russland die Kontrolle über die gesamte Ukraine erringt und sich zum Sieger erklärt. Er muss beweisen, dass die liberalen Demokratien den Kampf gegen die Autokraten nicht verlieren. Und das könnte doch noch dazu führen, dass russische und amerikanische Einheiten aufeinanderstoßen.

Europas Waffe

Die EU hat in diesem Konflikt keine ernsthaften militärischen Optionen. Aber nur sie hat die Macht, Russland wirtschaftlich so zu treffen, dass es Putins Herrschaft gefährden könnte. Allerdings wäre der eigene Preis dafür hoch. Der Anteil des Handels mit Russland an der gesamten europäischen Wirtschaftsleistung ist gering, aber für manche Branchen entscheidend. Schon jetzt laufen die Lobbyisten in vielen Staaten gegen ein breites Handelsembargo Sturm.

Vor allem die Abhängigkeit vom russischen Gas droht Europas Widerstandskraft gegen Putins Aggressionspolitik zu untergraben. Zwar könnte die EU mit viel Kraft und Geld bis zum nächsten Winter Alternativen zu russischen Gaslieferungen aufbauen, aber die Energie kosten würden dann weiter steigen – mit schmerzhaften sozialen Folgen für ärmere Haushalte und Schäden für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie. Welchen Preis die Europäer bereit sind, für die Verteidigung ihrer Werte zu bezahlen, kann derzeit niemand sagen.

Die wirkungsvollste Waffe der Europäer hat der US-Ökonom Paul Krugman in der New York Times genannt: Russische Politiker und Oligarchen haben in den vergangenen Jahren unzählige Milliarden außer Landes geschafft, mithilfe europäischer Banken gewaschen und in Europa vor allem in Immobilien angelegt. Das meiste Geld liegt in London, aber viel auch in Wien.

Wenn europäische Regierungen diese Vermögen konfiszieren, was sie bereits überlegen, dann trifft das Putin und seine Getreuen am empfindlichsten Nerv. Ein allgemeiner Visastopp für russische Staatsangehörige würde wiederum die russische Mittelschicht die Kosten von Putins Politik spüren lassen.

Doch dafür dürften die Europäer, ebenso wie die USA, nicht mehr wegschauen, wenn Ultrareiche ihre Vermögen waschen und verstecken, schreibt Krugman: "Ein effektives Vorgehen gegen Putins wundesten Punkt verlangt, dass der Westen auch die eigene Korruption zugibt und überwindet."

Der Preis des neuen Kalten Krieges wird viel geringer sein als der des ersten – und verschwindend klein gegenüber dem Blutzoll und der Zerstörung und all dem Elend, das die Ukrainer erleiden. Aber ob Europa und der Westen dazu bereit sein werden, wird sich erst in den kommenden Wochen zeigen. (Eric Frey, 26.2.2022)