Manchen glückte die Flucht nach Polen (Bild), viele aber hängen in der Heimat fest.

Foto: Imago / NurPhoto / Beata Zawrzel

Die ukrainische Journalistin Olga Malchevska ist im Londoner BBC-Studio live auf Sendung und erzählt von einer Nacht voller Angst und Sorge: Stundenlang habe sie ihre Eltern in Kiew nicht erreichen können. Doch dann endlich die erlösende SMS ihrer Mutter: "Es geht ihnen gut, sie waren in einem Keller in Sicherheit."

Die Regie blendet Aufnahmen aus der ukrainischen Hauptstadt ein, sie zeigen ein durch Raketen- oder Granatenbeschuss zerstörtes Wohnhaus. Erstaunlich gefasst sagt Malchevska: "Das hier ist mein Zuhause." – "Das Gebäude, das wir hier sehen, das ist Ihr Zuhause?", fragt die BBC-Moderatorin nach. "Ja, da oben im sechsten Stock, da wohnen meine Eltern", bestätigt die junge Reporterin.

Es sei erschütternd, so weit weg von zu Hause zu sein und diese Videos sehen zu müssen. Trotzdem lässt sich Malchevska kaum anmerken, wie aufgewühlt sie sein muss. Im Studio bleibt sie Profi, ihre Stimme stockt nur ab und zu für einen kleinen Moment. Ihre BBC-Kollegin will Rücksicht nehmen, aber nein: Alles okay. Weitermachen.

Bilder der Zerstörung in Kiew und anderen ukrainischen Metropolen fluten am Freitag die Social-Media-Kanäle. Teils kommen Zweifel auf, ob sie authentisch sind; oft werden sie von den Userinnen und Usern mit grimmigen Kommentaren versehen.

Am Freitag strömen tausende Menschen zum Zentralbahnhof in Kiew. Sie alle wollen irgendwie aus der Stadt zu kommen – trotz einer Generalmobilmachung, die es allen männlichen Staatsbürgern zwischen 18 und 60 Jahren verbietet, das Land zu verlassen. Vielleicht ist es, so hoffen viele in den sozialen Netzwerken, anderswo sicherer als in der Hauptstadt – etwa in Lwiw (Lemberg) im westlichen Landesteil, knapp 70 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt.

Fluchtversuch aufs Land

"Auch ich habe Freunde, die gerade Kiew Richtung Westen und Süden verlassen", erzählt ein junger Mann am Telefon dem STANDARD. "Manche standen stundenlang im Stau und schafften es nicht, sie brauchten drei Stunden für wenige Kilometer." Viele Menschen, die in der Hauptstadt leben und arbeiten, hätten Freunde und Verwandte in Dörfern im Westen des Landes. "Aber man hört auch viel von Leuten, die über die Grenze wollen – nach Ungarn, Rumänien oder Polen."

In Moskau, 750 Kilometer nordöstlich von Kiew, weint Swetlana fast: "Wo hast du Lena bloß hingelassen?", schimpft sie mit dem Ehemann ihrer besten Freundin. Die Lage sei durch den "Scheißkrieg" auch so schon schrecklich genug. "Aber deswegen muss sie doch nicht gleich den Kopf verlieren und sich in Gefahr begeben!"

DER STANDARD

Lena weiß um die Gefahr, bei Demonstrationen gegen die russische Regierung festgenommen zu werden. Dennoch ist sie am Donnerstag, dem ersten Tag der von Präsident Wladimir Putin befohlenen Militäroperation, gegen den Krieg auf die Straße gegangen – aber nicht ohne ein Versprechen: Sie werde sich auf der Demo nicht in den Vordergrund drängeln und auch keine Antikriegsslogans schreien. "Aber ich muss zeigen, dass es mir nicht gleichgültig ist; dass wir Russen eben keinen Krieg wollen."

Angst bei Demonstranten

Nach drei Stunden ist sie unversehrt wieder zu Hause. Trotzdem ist sie deprimiert: Zum Zentrum der Demo am Puschkin-Platz ist sie nicht vorgedrungen, sie hatte Sorge, im Gedränge festgenommen zu werden. "Ich habe aber auch die Angst der anderen gesehen", berichtet sie.

Eine Angst, die der Kreml seit Jahren geschürt hat. Sie ist zu spüren bei denen, die auf die Straße gehen – immerhin mehrere Tausend am Donnerstag und dann auch am Freitag. Aber auch bei denen, die in sozialen Netzwerken für eine Beilegung des Konflikts plädieren. Und oft noch mehr bei denen, die zu Hause bleiben und abwarten.

Aber es gibt eben auch Gleichgültigkeit oder gar Zustimmung zum harten Kurs von Putin. Barmann Alexander meint: "Ich hätte die Ukraine nicht angegriffen." Aber es sei ja nicht seine Angelegenheit, fügt er hinzu. Dann zuckt er die Schultern und wechselt das Thema.

DER STANDARD

Andere verteidigen den Überfall. Die Bevölkerung im Donbass habe "sich acht Jahre lang im Keller vor Bombenangriffen der Ukrainer verstecken müssen". Jetzt sei es an den Ukrainern, sich zu fürchten. Popstar Nikolai Baskow übt sich in Populismus: "Russland beginnt keine Kriege: Russland beendet sie."

Stimmungsumschwung

Noch spüren die Russen recht wenig von den Konsequenzen des Einmarschs im Nachbarland. Es gibt zwar lange Schlangen an den Geldautomaten, und die Preise für Elektronikwaren haben sich innerhalb eines Tages deutlich erhöht.

In Aktien jedoch investieren nur wenige Moskauer, der Fall der Börse lässt die meisten kalt. Ändern dürften sich die Lage und die Stimmung, wenn der versprochene Sieg sich verzögert und die Zahl der Gefallenen deutlich steigt. So war es auch schon bei Afghanistan und Tschetschenien. (André Ballin aus Moskau, Gianluca Wallisch, 25.2.2022)