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"Das Schwierige ist nicht die kurze Perspektive, sondern die mittelfristige. Wie kommen wir über den nächsten Winter?" Andreas Löschel, Ruhr-Universität Bochum.

Foto: AP / Jens Buettner

Russlands Griff nach der Ukraine ist auch ein später Weckruf für Europa, sich in der Energieversorgung neu aufzustellen. Das gilt für Rohöl und Kohle, in noch viel größerem Ausmaß aber für Erdgas, wo Europa zu 40 Prozent von Importen aus Russland abhängig ist.

Einzelne Länder wie Österreich, das 80 Prozent des Bedarfs aus russischem Pipelinegas deckt, oder Ungarn (fast 100 Prozent) sind noch stärker exponiert. Auf Versprechungen Moskaus, die Abnehmer am anderen Ende der Leitung zuverlässig und ausreichend mit günstigem Gas zu versorgen, vertraut man nach dem Überfall auf die Ukraine nicht mehr.

Wie ist es überhaupt zu dieser starken Abhängigkeit gekommen? Das hat zum einen mit der Geografie zu tun, aber auch mit einer gewissen Bequemlichkeit, der Preisgestaltung – und der Tatsache, dass Russland bisher zumindest ein verlässlicher Partner war.

Das haben Vertreter der OMV, die als erstes westliches Unternehmen 1968 einen Erdgasliefervertrag mit Moskau abgeschlossen hat, aber auch höchste Regierungsvertreter in Österreich und Deutschland immer wieder hervorgehoben. Und es hat ja auch gestimmt. Selbst in der frostigsten Phase des Kalten Krieges strömte das Gas von Ost nach West, und die Wohnungen blieben warm.

Als Anfang 2009 beim Knoten Baumgarten an der niederösterreichisch-slowakischen Grenze 13 Tage lang kein Gas aus Russland ankam, war die Aufregung zwar riesengroß; Russland ortete die Schuldigen damals schon in Kiew und beteuerte, für den Westen bestimmtes Gas werde in der Ukraine illegal abgezweigt. Die ausgefallenen Mengen wurden nachgeliefert, das Vertrauen in den Lieferanten litt darunter noch nicht. Das ist jetzt anders.

Suche nach Ersatz

Höchste Repräsentanten der EU, von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bis Energiekommissarin Kadri Simson, versuchen, neue oder zusätzliche Bezugsmengen als Ersatz für russisches Gas auf die Beine zu stellen. Auch Türkis-Grün in Wien beteuert, sich ins Zeug zu legen, um die Abhängigkeit von einem Lieferanten zu reduzieren. Es ist aber nicht die Politik und es sind auch nicht einzelne Länder, die Energie in welcher Form auch immer kaufen. Das machen darauf spezialisierte Händler, und sie machen das rund um die Uhr.

Die Politik kann höchstens Türen in Produzentenländern aufstoßen und Rahmenbedingungen so gestalten, dass es sich für Unternehmen beispielsweise lohnt, Flüssiggasterminals zu bauen. Verflüssigtes Erdgas oder LNG (Liquified Natural Gas), wie es in der Fachsprache heißt, wäre eine von mehreren Möglichkeiten, russisches Pipelinegas zu ersetzen. Daran hängen zumindest die Hoffnungen vieler Verantwortungsträger. Doch ist das auch realistisch?

Mix an Maßnahmen

Zehn bis 20, allerhöchstens 30 Prozent ließen sich mit einer Kraftanstrengung ersetzen, sagen Expertinnen und Experten. Und das auch nur, wenn die LNG-Nachfrage aus Ländern in Asien, die aus Mangel an Alternativen jeden Preis zu zahlen bereit sind, gerade einmal nicht so groß ist. Das war beispielsweise in den vergangenen Wochen der Fall, wo aufgrund der vergleichsweise milden Witterung die Nachfrage in Asien zurückgegangen ist und Tanker Kurs auf Europa genommen haben. Mit LNG allein wird man also nicht das Auslangen finden.

"Es muss einen Mix an Maßnahmen geben: Diversifikation samt LNG, aber auch Auslastung aller Pipelinerouten, Aktivierung von Gasreserven, Biogas, Ausbau erneuerbarer Energien und Energiesparen. Dann kommen wir auch über den nächsten Winter", sagt Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin.

Es gibt verschiedene Szenarien. Dass Russland trotz Kriegs und Sanktionen weiter liefert wie gehabt, ist die Wunschvorstellung. Es könnte aber auch zu Lieferunterbrechungen aufgrund von Sabotage oder durch Kampfhandlungen kommen. Und schließlich der Worst Case: Putin dreht den Gashahn Richtung Europa komplett zu.

Niedrige Speicherstände

"Das Schwierige ist nicht die kurze Perspektive, sondern die mittelfristige. Wie kommen wir über den nächsten Winter?", sagt Andreas Löschel, Inhaber des Lehrstuhls für Umwelt- und Ressourcenökonomik an der Ruhr-Universität Bochum. Vor dem Hintergrund, dass in einigen Speichern in Europa zuletzt wieder mehr Gas eingespeichert als entnommen wurde, der Winter fast zu Ende geht und es vergleichsweise mild ist, könnte man so eine Situation kurzfristig wohl überwinden, meint der Professor.

Im Klimaschutzministerium in Wien betont man ebenfalls, dass selbst in der schlimmsten Konstellation – Totalausfall russischer Gaslieferungen und extrem kaltes Wetter – das eingespeicherte Gas zumindest für Privathaushalte bis Anfang April reiche.

Warum ist so wenig Gas in den Speichern? Das hat mit der Preissituation im vorigen Sommer zu tun und offenbar auch mit einer von langer Hand vorbereiteten Strategie von Gazprom. Unternehmen, die dem teilstaatlichen russischen Gaskonzern zuzurechnen sind, haben in einigen Ländern Europas, darunter auch in Österreich, Speicher angemietet, um bei erhöhter Nachfrage Kunden daraus bedienen zu können.

Normalerweise werden die Speicher in den Sommermonaten, wenn die Gaspreise niedrig sind, aufgefüllt. Voriges Jahr sind die Preise infolge des Wirtschaftsaufschwungs und eines vergleichsweise knappen Angebots gestiegen. Statt wie üblich große Mengen für den Winter einzulagern, haben Händler das teuer gekaufte Gas lieber noch teurer verkauft. An dem Preishype war Gazprom nicht unschuldig. Der Gasmonopolist hat wenig zusätzliches Gas geliefert und seine Speicher fast leer geräumt.

DER STANDARD

Bevorratungsgesetz

Im Gegensatz zu Rohöl, wo Reserven für 90 Tage gehalten werden müssen, ist dies bei Gas in Österreich und Deutschland nicht der Fall. Es sei zu teuer und ein zu großer Eingriff in den Markt, hat es immer geheißen. Unter dem Eindruck der jüngsten Geschehnisse hat Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) nun ein Gasbevorratungsgesetz angekündigt, das mit dem ebenfalls noch ausstehenden Erneuerbare-Wärmegesetz bis zum Sommer präsentiert werden soll.

Auch die deutsche Ampelkoalition hat ein Bevorratungsgesetz angekündigt und will mit Ländern wie Frankreich, Polen oder Italien gleichziehen, die das schon haben. Damit soll gewährleistet sein, dass die Speicher vor Beginn des Winters tatsächlich voll sind. Dass sich Gas damit weiter verteuert, ist auch klar.

Auf höhere Energiekosten müssen sich Bürgerinnen und Bürger ohnehin einstellen, möglicherweise auf Jahre hinaus. Gas, das Norwegen in der Nordsee fördert, kostet mehr als jenes, das über Langfristverträge aus Russland bezogen wird. Auch LNG ist teurer, weil Zusatzkosten für die Verflüssigung, den Transport in Spezialschiffen und die Regasifizierung anfallen.

Will Europa die Abhängigkeit von russischem Erdgas verringern, bleibt den Bürgerinnen und Bürgern aber gar nichts übrig, als in den sauren Apfel zu beißen. Bis neue Speichermöglichkeiten geschaffen sind, um mit Windkraft- und Solaranlagen erzeugte Energie vom Sommer in die Wintermonate zu transferieren, führt an Gas als Brückentechnologie kein Weg vorbei. Schon wird spekuliert, ob Deutschland den Ausstieg aus der Kohle doch nicht auf 2030 vorzieht. Für Österreich ist das keine Option. Das letzte Kohlekraftwerk in Mellach bei Graz ist im Frühjahr 2020 vom Netz gegangen. (Günther Strobl, 26.2.2022)