Russland ist modernisierungsresistent, sagt der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer im Gastkommentar. Die Ukraine habe versucht, dem scheinbar niemals endenden Zyklus von Armut, Unterdrückung und Weltmachtanspruch zu entkommen.

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Ukrainerinnen und Ukrainer warten am Freitag auf die Evakuierung aus Kiew.
Foto: Reuters / Umit Bektas


Putin hat entschieden. Der Präsident einer Groß- und Nuklearmacht, Russland, stellt die Existenz eines von ihr selbst anerkannten Nachbarstaates in Frage, ohne Rücksicht auf Verträge und Völkerrecht. Die Ukraine ist, so Putin, ein untrennbarer Bestandteil Russlands. Was immer die Mehrheit der ukrainischen Bürgerinnen und Bürger auch von dieser Behauptung halten mag, tut nach Putin dabei nichts zur Sache, denn es geht um Russlands Größe und Weltgeltung.

Tatsächlich will er mehr als die Ukraine. Ihm geht es um die gesamte europäische Ordnung, die vor allem auf der Unverletzlichkeit der Grenzen aller Staaten auf dem europäischen Kontinent beruht, die er revidieren möchte. Sein großes Projekt ist ganz offensichtlich die Revision der europäischen Ordnung, um Russland als Vormacht zumindest in Osteuropa wiederauferstehen zu lassen. Die Demütigung der 90er Jahre, mit dem Ende der Sowjetunion und dem Kollaps der inneren Ordnung der Sowjetunion, soll getilgt werden und Russland wieder Weltmacht auf Augenhöhe mit den USA und China werden.

Bizarre Rede

Ihren Höhepunkt erreichte die bizarre Rede des russischen Präsidenten in der Behauptung, die Ukraine würde den Besitz von Atomwaffen anstreben, die sie ja zu Beginn der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als sie nach dem Ende der Sowjetunion, über das weltweit drittgrößte Nuklearwaffenarsenal verfügte, unter der tätigen diplomatischen Mithilfe der "bösen" USA an Russland abtrat gegen die Garantie ihrer territorialen Integrität, so festgehalten im Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994 und damals unterzeichnet von den Garantiemächten USA, Großbritannien und Russland gegenüber den ihre Nuklearwaffen aufgebenden Staaten Ukraine, Belarus und Kasachstan.

"Die Mehrheit will ein besseres Leben, mehr Wohlstand und wirtschaftlichen Fortschritt und keinen Krieg um die Vorherrschaft in Osteuropa."

Sinn machte diese Rede nicht allzu sehr, so man sich an historischen Fakten orientiert, aber offensichtlich ging es um die Begründung für den militärischen Überfall auf den Nachbarn Ukraine vor dem eigenen Volk, denn das russische Volk scheint keinen Krieg zu wollen. Die Mehrheit will stattdessen ein besseres Leben, mehr Wohlstand und wirtschaftlichen Fortschritt und keinen Krieg um die Vorherrschaft in Osteuropa. Erneut wird das große russische Volk in diesen Tagen, um seine Zukunft betrogen, wie so oft in der russischen Geschichte.

Was Putin verborgen zu bleiben scheint, ist die Erkenntnis, dass die russische Großmachtpolitik unter Einschluss der Beherrschung fremder Völker in seiner Einflusszone, diese nur an eines denken lässt: an die Flucht aus dem Völkergefängnis bei der ersten sich bietenden Gelegenheit und unter die schützenden Fittiche der Nato. Siehe die Nato-Osterweiterung nach 1989.

Armut und Unterdrückung

Warum will die Ukraine in die Nato? Weil ihnen die jederzeit expansionsbereite russische Politik an ihrer Grenze gegenübersteht, und nicht, weil die Nato angebliche Angriffsabsichten gegenüber Russland hat. Warum wurden all die bösen Absichten, die die russische Propaganda dem Westen unterstellt, nicht in den 90er Jahren, als Russland wirklich am Boden lag und es ein leichtes gewesen wäre, verwirklicht? Weil diese Behauptungen eben nur Propaganda und unsinnig sind.

Das russische Reich erwies sich mit seiner spezifischen Mischung aus Armut im Innern und brutaler Unterdrückung und seinem Machtanspruch als Weltmacht bis in unsere Tage hinein als äußerst modernisierungsresistent, sei es unter der Herrschaft der Zaren oder unter Lenin und Stalin und deren Nachfolgern oder unter Putin. Immer bezahlten und bezahlen die einfachen Leute die Zeche, ohne dass es einen spürbaren Fortschritt gab. So auch jetzt unter Putin.

"China fährt im Vorwärtsgang mit voller Geschwindigkeit Richtung Supermacht des 21. Jahrhunderts."

Man vergleiche nur das Pro-Kopf-Einkommen Chinas mit Russland. Beides sind autoritäre Systeme, doch das chinesische Pro-Kopf-Einkommen ist kräftig gewachsen, während der russische Lebensstandard gesunken ist. Putin fährt mit voller Kraft im Rückwärtsgang durch die Geschichte, Richtung 19. und erste Hälfte des 20. Jahrhunderts auf der Suche nach vergangener Größe. China hingegen fährt im Vorwärtsgang mit voller Geschwindigkeit Richtung Supermacht des 21. Jahrhunderts. Diesen Erfolg verdankt es vor allem seiner breiten wirtschaftlichen und vor allem technologischen Modernisierung.

Putin hat die Einnahmen aus Energieexporten im Wesentlichen in die Modernisierung des Militärs gesteckt und wird so das russische Volk erneut um seine Zukunft betrügen. Man möchte angesichts des großen Potenzials des russischen Volkes und seiner Jugend und der von seiner Führung vertanen Chancen eigentlich weinen.

"Warum nicht wir auch?"

Die Ukraine hat mit ihrer Westorientierung Richtung Europa versucht, diesem scheinbar niemals endenden Zyklus von Armut, Unterdrückung und Weltmachtanspruch zu entkommen. Gelänge ihr dies auf längere Sicht, so würde das die autoritäre Herrschaft Putins in Russland gefährden. Denn die Russen würden sich und ihren Herrschern nur eine einzige Frage stellen, die es allerdings in sich hat: "Warum nicht wir auch?" Genau darum geht es heute in der Ukraine. (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 27.2.2022)