Mit der russischen Invasion der Ukraine hat auch eine große Fluchtbewegung in Richtung Westen eingesetzt. Mittlerweile sind mehr als 100.000 Menschen in die benachbarten Länder geflüchtet – ein Großteil von ihnen nach Polen. Chris Melzer arbeitet eigentlich als Pressesprecher des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) in Deutschland. Derzeit aber ist der 49-jährige im Kriseneinsatz im polnisch-ukrainischen Grenzgebiet. DER STANDARD konnte ihn im Auto telefonisch erreichen.

STANDARD: Wie ist die aktuelle Lage im polnisch-ukrainischen Grenzgebiet?

Melzer: Wir waren gerade am Grenzübergang in Zosin. Auf ukrainischer Seite gibt es derzeit eine 14 Kilometer lange Autoschlange. Einige der Flüchtenden sagen, dass sie schon 36 bis 38 Stunden warten. Die polnischen Behörden lassen alle ins Land und registrieren jeden, aber das dauert natürlich. Das Interessante ist, dass die Stimmung unter ihnen gar nicht so schlecht ist. Sie haben natürlich Angst, sie sind erschöpft, aber sie sind auch erleichtert, weil sie jetzt in Sicherheit sind.

Wir haben mit einer Mutter gesprochen, Olga, die ist mit drei Kindern auf der Flucht. Sie sagt, es ist der dritte Tag, den sie im Auto verbringen, der dritte Tag, an dem sie nichts Warmes gegessen haben, und es wird die dritte Nacht sein, die sie im Auto schlafen müssen. Und nachts hat es hier Minusgrade. Sie ist froh, dass die Kinder noch zu klein sind, um das alles zu begreifen. Die Kinder ihrer Nachbarin sind etwas älter, sagt sie, die weinen die ganze Zeit.

Die Flüchtlinge werden mitunter auch in Turnhallen untergebracht.
Foto: AFP/WOJTEK RADWANSKI

STANDARD: Kommen Flüchtlinge auch zu Fuß?

Melzer: Ja. Die nehmen Transportmittel wie den Bus und gehen dann zu Fuß über die Grenze. Dann muss man nicht so lange warten, aber immerhin noch vier Stunden. Es gibt auch viele Flüchtlinge, die ihr Auto stehenlassen und über die Grenze marschieren, um einfach in Sicherheit zu sein. Was auffällt: Es sind nur Frauen und Kinder. Manchmal sind Väter zu sehen, die ihre Familie absetzen und dann zurückfahren.

STANDARD: Wie viele Flüchtlinge sind bislang in Polen angekommen?

Melzer: Am ersten Tag der Invasion waren es 29.000, am zweiten 47.500. Samstagmittag waren es insgesamt mehr als 100.000. Wir können davon ausgehen, dass es nach dem dritten Tag bestimmt 120.000 Flüchtlinge sein werden. Wie viele noch kommen, hängt von der Entwicklung in der Ukraine ab. Viele sagen, sie gehen zurück in ihre Heimat, sobald es sicher genug ist.

Ukrainer versuchen über Lviv nach Polen zu gelangen
DER STANDARD

STANDARD: Wie gut ist Polen auf diese Fluchtbewegung vorbereitet?

Melzer: Polen hat sich gut vorbereitet, es zeigt sich sehr offen, aber trotzdem ist es natürlich ein enormer und rascher Anstieg. Hier gibt es auch viele Exil-Ukrainer, das ist ein Netzwerk, das einiges abdeckt. Was mich sehr beeindruckt hat, war die enorme Hilfsbereitschaft der Leute hier.

Als wir im kleinen Rot-Kreuz-Stützpunkt in Lublin waren, kamen permanent Menschen vorbei, brachten gebrauchte oder gar frisch gekaufte Kleidung, Decken und vieles mehr. Eine Familie hat mit ihrem Sohn einen ganzen Einkaufswagen voller Lebensmittel und Getränke abgegeben. Die Eltern meinten: "Wir können doch nicht einfach zuschauen. Und unser Sohn soll sehen, dass so etwas einfach dazugehört, dass man Menschen hilft." An der Grenze stehen Menschen mit Pappschildern, auf denen auf Ukrainisch steht: "Sagen Sie mir, wo Sie hinwollen, ich fahre Sie hin." Die Solidarität ist wirklich beeindruckend.

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Am Grenzübergang Medyka wartet ein Haufen an gespendeter Kleidung auf die Flüchtlinge.
Foto: AP/Visar Kryeziu

STANDARD: Wo können jene übernachten, die nicht weiterreisen wollen?

Melzer: Es sind Erstaufnahmezentren eingerichtet worden. Es gibt aber wie gesagt auch viele private Netzwerke. Eine NGO zum Beispiel hat mehrere Wohnungen hergerichtet und stellt sie Flüchtlingen ein Jahr lang kostenlos zur Verfügung. Oder die Organisation Homo Faber, die in Lublin die Hilfsangebote koordiniert: Die Menschen rufen an und sagen, sie haben ein Zimmer frei, und die NGO stellt sicher, dass diese Hilfe auch ankommt.

STANDARD: Trotz dieser großen Solidarität: Was können die Vertriebenen dringend gebrauchen?

Melzer: Ganz akut werden Decken und warme Kleidung benötigt. Denkt man über die nächsten 72 oder 96 Stunden hinaus, dann ist Wohnraum am wichtigsten. Wenn man die Flüchtlinge selbst fragt, was sie brauchen, dann ist die Antwort mehr oder weniger immer die gleiche: Wir wollen nach Hause. Wir wollen, dass der Krieg aufhört. Wir haben eine Frau getroffen, mit ihrem kleinen Kind auf dem Arm. Das rief die ganze Zeit: Dodomu, dodomu. Nach Hause, nach Hause.

Chris Melzer fordert Unterstützung für die Erstaufnahmeländer.
Foto: Privat

STANDARD: Irgendwann werden auch die Menschen in Polen und den anderen Nachbarländern der Ukraine an ihre Grenzen gelangen. Wie soll es dann weitergehen?

Melzer: Grundsätzlich muss gesagt werden, dass der Großteil der Vertriebenen weiter in der Ukraine ist. Was die Nachbarländer betrifft: Wir fordern das, was wir sonst auch in anderen Erdteilen in solchen Fällen fordern. Nur diesmal geht es nicht um Bangladesch oder Äthiopien, sondern um Europa: Die Erstaufnahmeländer brauchen Unterstützung.

STANDARD: Werden Flüchtlinge weiterwandern?

Melzer: Sie werden weiterwandern, das muss uns klar sein – nach Deutschland, nach Österreich, nach Italien. Aber die meisten werden in Polen bleiben, sogar in Ostpolen, weil sie hoffen, dass sie bald die Rückreise antreten können. (Kim Son Hoang, 27.2.2022)

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