In Erwartung eines herabfallenden Astes, der ihn in Paris erschlagen wird: Samouil Stoyanov (li.) als Horváth.

Foto: Marcel Urlaub

Es kommt recht selten auf dem Theater vor, dass Direktor und Schauspieler einander exakt auf Augenhöhe begegnen. Im Wiener Volkstheater, wo das Nature Theater of Oklahoma für einen brillanten szenischen Aberwitz verantwortlich zeichnet, überragt der erstere sein Gegenüber tatsächlich um Hauptes Länge. Er sagt, in einem rührend albernen Bühnenenglisch: "I’m always interested in the best idea in the room". Aber, und der Zusatz macht den Unterschied ums Ganze: "in a Hitler style".

Zwei Schmierenkomödianten proben das allabendliche Wunder der Theaterneuschöpfung: ein großspuriger "Regisseur" (Elias Eilinghoff), ein schüchterner, kleiner Mime (Bence Mezei). Gemeinsam führen die beiden einen stockenden Dialog über ihre Absicht, Ödön von Horváths Rummelplatzstück Kasimir und Karoline aufzuführen. Die Bühne selbst? Gleicht einer Fortsetzung des realen Wiener Volkstheaters, seines Stucks und Plüschs, mit anderen, halbseidenen Mitteln (Ausstattung: Michael Sieberock-Serafimowitsch).

In der Folge gelangt Horváths Kasimir tatsächlich zur Aufführung: als von Mezei verlesenes Szenensubstrat, mit fünf hastig kostümierten Schauspielern im Stummfilmmodus. Das köstliche Ergebnis ist eine Horváth-Maschine in Dauerrotation. Allmählich wechseln jedoch Schöpfer und Werk ihre Plätze. Plötzlich liegt der "reale" Ödön von Horváth (Samouil Stoyanov), entblößt bis auf die Strumpfhalter, auf einem schäbigen Pariser Hotelbett. Wir schreiben jetzt den 1. Juni 1938. Erlebbar wird, wie der erschöpfte Emigrant auf seiner Flucht vor Hitler ausgerechnet dem Zufall zum Opfer fällt: erschlagen wird von einem herabfallenden Ast auf den Champs Élyssées.

Bis es aber so weit ist, dreht das Nature Theater buchstäblich durch. Wirbelt den armen Horváth, bis dem sein letztes Stündchen geschlagen hat, durch ein Fake-Paris voller Clochards und Baguette-Stangen. Der Exildichter selbst wird verdoppelt und verdreifacht: Er stolpert, von einer Schreibblockade gemartert, in ein Lichtspieltheater. Dort wird Disneys Märchentrickfilm Schneewittchen auf Rollschuhe transponiert: ein atemberaubender Schnelldurchlauf, mit Tiermasken und einem Aufgebot tapferer Zwerge.

Vom Hölzchen aufs Stöckchen

So kommt das Nature Theater of Oklahoma auf die wunderbarste Weise vom Hölzchen aufs Stöckchen. Die (scheinbar) improvisierte Spielanordnung verweist auf einen Jacques-Rivette-Film, in dem anno 1969 ein Haufen todesmutiger Schauspieler sein Wirken mit der damaligen Tagesaktualität verquickt hat. Daher lautet der Produktionstitel im Wiener Volkstheater, in einer Art Echo auf Rivette: Karoline und Kasimir – Noli me tangere.

Vor allem aber brillieren zwei Schauspielerinnen und führen das doppelte Spiel, dass sie mit Horváth treiben, mit Sein und Schein, mit Determination und Zufall, in die lichten Höhen der Reflexion. Der austro-ungarische Dichter trifft den Regisseur Robert Siodmak und dessen Muse in einem Pariser Straßencafé: Siodmak soll Horváths Roman Jugend ohne Gott verfilmen. Eine glänzende Karriere in Hollywood winkt. Der Dichter soll, obwohl von Blitzangst geplagt, selbst in ein Blitzlichtgewitter geraten.

Die Kulturindustrie frisst ihre Kinder. Doch während Horváth sich spröde und abweisend gibt, verfällt Siodmaks jüdische Assistentin (Julia Franz Richter) in einen wahren Deklamationsrausch: Macht Wien, überhaupt Österreich, den Prozess. Verbiegt in kalter Wut die Gliedmaßen, während sie des Alpenländers unbändige Lust an der Darmentleerung höhnt. Und wie um diese Brandrede zu entkräften, verzettelt sich Lavinia Nowak – als Bettler oder Hundehalterin – parallel in einer Vielzahl köstlicher Pantomime-Nummern.

Immerzu bleibt die Arbeitshypothese des Regiepaars Kelly Copper und Pavol Liška aufrecht: Der Umweg, die Ausflucht, die Abschweifung führen am sichersten zum Ziel. Am Schluss schlägt tatsächlich der Blitz ein, und ein dummer Baumast wird dem armen Horváth zum Verhängnis. Doch bis es so weit ist, hat das Nature Theater of Oklahoma sein Bestes gegeben: unter anderem auch in Sachen schweißtreibendem Tanz. Das Wiener Volkstheater scheint angekommen zu sein im Antiillusionismus. Bezauberung durch Entzauberung: Das Wiener Publikum sollte sich diese famose Beweisführung nicht entgehen lassen. (Ronald Pohl, 27.2.2022)