Auch wenn man der Liturgie folgte, war es in der russisch-orthodoxen Kathedrale kein Sonntag wie sonst.
Foto: Robert Newald

Die Jaurèsgasse im dritten Wiener Gemeindebezirk liegt noch im Schatten. Nur die goldenen Zwiebeltürme der Kathedrale zum heiligen Nikolaus nahe der russischen Botschaft glänzen in der Morgensonne. Vor Beginn des Gottesdienstes um 10 Uhr kommen Gläubige aus Russland, der Ukraine und Moldau in die größte russisch-orthodoxe Kirche des Landes. Alle befolgen dieselbe Choreografie: Sie verbeugen sich vor dem Bild des heiligen Nikolaus über dem Eingang, bekreuzigen sich dreimal, setzen die FFP2-Maske auf und treten ein.

Eine Frau, die sich ihr Kopftuch schon umgebunden hat, wie es in der orthodoxen Kirche für Frauen Pflicht ist, bleibt vor dem Aufgang stehen, als sie das Team des STANDARD sieht. Sie erkundigt sich kurz, warum man hier sei, dann bricht es aus ihr heraus: "Wir brauchen einen Korridor aus Sumy raus!" Die Frau stellt sich als Olga vor und kramt zum Beweis ihren ukrainischen Pass hervor. Olga hat Angst um ihren Sohn und ihre Mutter, die in der nordostukrainischen Stadt mit gut 250.000 Einwohnern leben. Weniger als 50 Kilometer Luftlinie ist die russische Grenze entfernt. Sie zeigt auf ihrem Handy Fotos von zerstörten Häusern. Auch zivile Ziele wie Wohnhäuser und eine Hochschule wurden von den russischen Streitkräften schon beschossen, friedliche Menschen seien gestorben, klagt sie. Sie sei ständig mit ihrer Familie in Sumy in Kontakt, erzählt Olga: "Wir haben kein Wasser, keine Lebensmittel, nicht einmal Brot." Während Olgas Anklage geht eine andere Frau hinter ihr die Treppen empor und ermahnt Olga, still zu sein. Das hier sei ein Gotteshaus, sagt die Frau. Sie bitte hier doch nur um Hilfe, rechtfertigt sich Olga. "Wenn Sie hier so rumschreien, hilft das auch niemand", sagt die Frau und geht die Treppen hinauf in die Kirche.

Auch ukrainische Familien kommen am Sonntag in die russisch-orthodoxe Nikolaus-Kathedrale im dritten Bezirk.
Foto: Robert Newald

Gemischte Gemeinde

Während Olga verzweifelt ihre Geschichte erzählt, kommen immer mehr Gläubige. Auch Alexander, ein ruhiger, ernster junger Mann aus Moldau, der seit elf Jahren in Wien lebt. Alexander hat Angst um seine Heimat. In die russisch-orthodoxe Kirche kommt er weiter, denn es ist eine gemischte Gemeinde, "zumindest bis jetzt, wir werden sehen, wie es weitergeht", sagt er traurig, "aber ich komme hier zu Gott, nicht zu einem Staat".

Drinnen zündet Alexander Kerzen an, während die mehrstimmigen, wunderschönen Gesänge anschwellen und mehrere geistliche Würdenträger in ihren gelb-goldenen Gewändern in einem Halbkreis Aufstellung nehmen. Während des ruhigen Gesangs kommen weitere Gläubige, kaufen Kerzen oder küssen – stets mit Schutzmaske – Ikonen, die seitlich an den Wänden auf Tischen liegen.

Auf bunten Wandfresken sieht man einen verletzten Hinkenden, den Jesus heilt, Lazarus, den er von den Toten erweckt, und Zachäus, der sich in einem Baum versteckt, wo Jesus den Außenseiter entdeckt. Auf den Bildern auf Olgas Handy sieht man Zerstörung und Menschen in Angst in Sumy. Mit einer Lederjacke bekleidet hat sie sich dicht hinter die geistlichen Männer gestellt, sie betet mit und beantwortet Nachrichten aus dem Krieg.

Flucht vor dem Regime

Während des Gottesdienstes geht draußen ein glatzköpfiger Mann mit bulliger Statur an einer Straßenecke vor der Kirche telefonierend auf und ab. Er lebe in Bratislava und versuche, jeden Sonntag hierherzukommen, er telefoniert mit Verwandten und Freunden, es kommt ein Anruf nach dem anderen. Wie er zu dem Konflikt in der Ukraine stehe? Der ehemalige russische Beamte ist selbst vor fünf Jahren aus Moskau geflüchtet und hat die israelische Staatsbürgerschaft angenommen, er habe dort familiäre Wurzeln. "Damals war klar, dass das Regime verrückt wird", erklärt der Mann mit den weißen Sneakern und der dicken Weste seine Entscheidung. Auch für das, was jetzt geschieht, findet er klare Wort: Schon in den vergangenen Jahren habe die russische Regierung ihr eigenes Volk terrorisiert. Jetzt aber praktiziert Russland Staatsterror gegen ein benachbartes Volk. Der nunmehrige Israeli und orthodoxe Christ, der anonym bleiben möchte, gab auch deshalb seine russische Staatsbürgerschaft auf, weil er sich dafür schämte, Russe zu sein. In den nächsten Jahren, so prognostiziert er, werde es überhaupt beschämend sein, Russe zu sein, ähnlich wie es nach 1945 beschämend war, Deutscher zu sein. "Es wird lange dauern, bis Russland wieder Teil der zivilisierten Welt sein wird", sagt er und entschuldigt sich: der nächste Anruf wartet.

Währenddessen geht ein bärtiger junger Mann mit schwarzer Jacke und schwarzen, an den Knien zerschlissene Jeans, zielstrebig zu einem Fahrradständer, auf dem ein Zettel mit den Worten "I stand with Ukraine" und der ukrainischen Flagge klebt. Er reißt den Zettel und die übriggebliebenen Fetzen herunter, dann geht er zu einem Mülleimer, auf dem der gleiche Zettel hängt, und weiter zu einem Plakat ähnlichen Inhalts. Schnell verschwindet er in Richtung der Schnellbahnstation Rennweg. Keiner der Umstehenden spricht ihn an, zu angriffslustig wirkt der Mann.

Die Kathedrale zum heiligen Nikolaus im dritten Wiener Gemeindebezirk wurde Ende des 19. Jahrhunderts erbaut und ist Sitz der russisch-orthodoxen Gemeinde Wiens.
Foto: Robert Newald

Das Jüngste Gericht

Zurück in die Kirche: Gesänge und Gebete sind auf Kirchenslawisch, nur ein Korintherbrief wird auf Deutsch gelesen. Erzpriester Wladimir Tyschuk spricht die Predigt auf Russisch, es geht gemäß dem Kirchenkalender um die Apokalypse und das Jüngste Gericht. Die Botschaft ist klar. Der Mensch müsse sich entscheiden, ob er Böses oder Gutes tun will, ob man Menschen zu helfen oder sie erniedrigen will.

Am Ende kündigt man an, Geld für "Geschädigte" zu sammeln. In den internen Chatgruppen ist man deutlicher. Hier leiten auch Gemeindemitglieder der Nikolaus-Kathedrale Spendenaufrufe der ukrainischen Gemeinde von der St.-Barbara-Kirche in Wien zugunsten ukrainischer Flüchtlinge weiter.

Vor der St.-Barbara-Kirche herrscht zur gleichen Zeit großer Andrang: Zwischen mehreren kleinen Ansammlungen drängen sich Menschen mit prall gefüllten Kisten und Taschen. Immer wieder sieht man die blau-gelbe ukrainische Flagge aus der Menge herausleuchten. Viele haben sie umgehängt, Kinder schwenken sie im Wind. Es gibt nur ein Gesprächsthema: den Krieg.

Die griechisch-katholische Kirche ist ein Treffpunkt für die ukrainische Community in Wien, denn hier werden auch Gottesdienste in ihrer Landessprache abgehalten. Während der Messe am Sonntag wird für Frieden gebetet, ein paar Räume weiter werden Spenden für Flüchtlinge gesammelt: Vor allem Kleidung und Decken stapeln sich schon fast bis zur Decke. Die Helferinnen und Helfer sind alle eingeteilt, sie schlichten die Spenden.

In der griechisch-katholischen St.-Barbara-Kirche der ukrainischen Katholikinnen und Katholiken im ersten Bezirk stapeln sich Spenden.
Foto: Christian Fischer

Flehen für einen Korridor

In der Nikolaus-Kathedrale wird nach der Predigt auch der Erzpriester noch mit dem eindringlichen Appell für einen Korridor für Frauen und Kinder aus Sumy konfrontiert. Eine Frau kniet sogar vor ihm nieder. Im Vorraum bringt sich wenig später ein Mann, der vorgibt, für eine offizielle russische Stelle tätig zu sein, ins Gespräch mit der flehenden Frau ein. Er streitet zur Empörung einiger Umstehender ab, dass Russland überhaupt zivile Ziele attackiere. Man geht erhitzt und ohne Ergebnis auseinander.

Nach dem Ende des Gottesdienstes steht eine Frau in einem zartrosa Anorak mit vier Kindern vor der Kirche. Drei der Kinder sind ihre, eines ist das Kind einer Freundin, die noch in der Kirche ist. Sie kam erst am Vortag nach Wien, sagt die Ukrainerin. Sie und weitere zwei Frauen flohen mit insgesamt acht Kindern in drei Autos aus ihrer Heimatstadt Kiew. Ihre Männer mussten sie zurücklassen. Sie waren drei Tage unterwegs, allein aus der Ukraine rauszukommen dauerte zwei Tage, von denen sie viel Zeit im Stau standen. Sie kamen über Ungarn nach Österreich, weil sie hier "gute Menschen kennen", sagt die Frau und richtet den Blick dankbar zum Himmel. Ihre 15-jährige Tochter sieht blass aus und erzählt in gutem Englisch, dass sie sich noch von ihrem Vater verabschieden konnte, aber nicht von ihren Freundinnen: "Ich bin früh aufgestanden, und meine Mutter hat gesagt, wir müssen los. Aber ich bin über mein Handy mit manchen Freundinnen und Freunden verbunden. Manche sind noch in Kiew, manche anderswo in der Ukraine, und manche haben es in die Slowakei geschafft."

Eine ihrer Schwestern ist zwölf Jahre alt und erzählt, dass einzelne Lehrerinnen und Lehrer für die Kinder auf der Flucht Online-Unterricht anbieten. "Aber nur zur Ablenkung, damit sie an etwas anderes denken können", wirft die Mutter mit Tränen in den Augen ein. Eine der anderen Mütter, mit denen sie auf der Flucht war, ist nun auch aus der Nikolaus-Kathedrale hinaus in die kalte Luft getreten. Sie trägt eine grüne Maske und erzählt von ihrem Mann, bis sie bitterlich zu weinen beginnt. Sie hoffe, dass die Entscheidungsträger zu Verstand kommen, sagt sie schluchzend. Dann gehen sie weg. "Freunde von Freunden" haben ihnen ein Hotelzimmer in Wien organisiert. (Sarah Maria Kirchmayer, Colette M. Schmidt, Levin Wotke, 27.2.2022)