Ein ausgebrannter russischer Mannschaftstransportwagen in Charkiw: Die Ukraine schlug den Angriff am Samstag zurück.

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Zwei Eilmeldungen schnellten am Sonntag fast zeitgleich durch die Agenturen. Einerseits habe Russlands Präsident Wladimir Putin die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt. Andererseits hätten sich Moskau und Kiew zu Gesprächen an der belarussischen Grenze einverstanden erklärt – und zwar "ohne Vorbedingungen". Drohungen und Gesprächsangebote sind wohl beide dem Kriegsverlauf geschuldet. Die Offensive, so schien sich am Wochenende zumindest abzuzeichnen, schritt langsamer voran, als Russland sich dies erhofft hatte. Zugleich dürfte das Ausmaß der westlichen Sanktionen in Moskau so nicht erwartet worden sein – vor allem die Sperrung der Zentralbankkonten, die den Handlungsspielraum des Kreml einschränkt.

Frage: Warum setzte Putin die Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft?

Antwort: Weil Putin die Entscheidung mit den Sanktionen führender Nato-Staaten und mit "aggressiven Äußerungen gegen unser Land" begründet hat, gilt die Drohung wohl weniger der Ukraine als ihren Verbündeten. Das bedeutet nicht, dass ein Atomkrieg unmittelbar bevorsteht. Allerdings will Russland offenbar bewusst Unklarheit darüber schaffen, wann man zu Nuklearwaffen greifen würde – und damit den Westen von weiterer Unterstützung für Kiew abhalten. Moskau will außerdem Zweifel an der Leistungsfähigkeit seiner Armee etwas entgegenstellen. Wer an der Schlagkraft der Streitkräfte zweifelt, der möge an die atomare Auslöschung denken. Washington reagierte mit dem Hinweis, man wisse sich zu verteidigen.

Frage: Stimmt es denn, dass die russische Armee zunehmend Probleme hat?

Antwort: Am Wochenende hatte sich die Front jedenfalls nur in kleinen Schritten weiterbewegt. Besonderes Aufsehen erregten die Angriffe auf die ukrainische Hauptstadt Kiew und die zweitgrößte Stadt, Charkiw, im Nordosten des Landes. Wirklich erfolgreich war Moskau in beiden Fällen aber nicht: In Charkiw stießen in der Früh russische Soldaten bis ins Zentrum vor, später gelang der Ukraine ihre Vertreibung. Die geplante Einkesselung Kiews schaffte Russland vorerst nicht. Allerdings waren am Sonntag neue Panzerkolonnen aus dem Nordosten unterwegs, für die Nacht war ein neuer Angriff angekündigt. Zudem gab es Berichte, belarussische Truppen könnten sich dem Sturm anschließen.

Frage: Wie sieht es in anderen Regionen aus?

Antwort: Im Donbass, wo sich prorussische Separatisten und die ukrainische Armee ja schon seit Jahren gegenüberstehen, haben sich die Frontlinien seit dem Kriegsbeginn nur leicht bewegt. Bei diesen Kämpfen sind aber viele Einheiten der ukrainischen Armee gebunden. Ihnen könnte die Einkesselung drohen, wenn der russische Vormarsch von der Krim im Süden des Landes weiter so schnell voranschreitet wie bisher. Zudem ist ein wichtiges Kriegsziel fast vollendet: Die Landbrücke zwischen der Krim und den separatistischen "Volksrepubliken" im Donbass. Dieser Vorstoß könnte in der heftig verteidigten Hafenstadt Mariupol aber zum Erliegen kommen. In der Westukraine beschränkt sich das Geschehen bisher fast nur auf Luftschläge gegen Flughäfen und Militärstellungen.

Frage: Wieso konzentriert sich Russland so stark auf die großen Städte?

Antwort: Moskau hatte laut Berichten auf eine Kettenreaktion gehofft: Charkiw und weitere Städte im Norden des Landes könnten sich schnell ergeben, um Blutvergießen zu vermeiden. Dann könnte man sich, moralisch gestärkt, auf Kiew konzentrieren. Vom großen Widerstand, auf den die Truppen treffen, sind die russischen Planer nicht ausgegangen. Kiew bleibt dennoch Ziel Nummer eins.

Frage: Wieso ist Kiew Ziel Nummer eins?

Antwort: Weil die Hauptstadt auch für die Steuerung der ukrainischen Armee wichtig ist. Außerdem hofft man, Präsident Wolodymyr Selenskyj zu finden. Russland behauptet, ihm dann wegen angeblicher "Kriegsverbrechen" im Donbass den Prozess machen zu wollen. Er selbst hat aber mehrfach gesagt, er rechne damit, gleich getötet zu werden. Geschieht dies, steht die Ukraine ohne ihren Präsidenten da – der in den ersten Kriegstagen auch zu einer wichtigen Symbolfigur des harten Kampfes gegen die russischen Truppen geworden ist. Viele rechnen in diesem Fall damit, dass Russland dann schneller weitere Gebiete einnehmen können wird – und im Gegenzug vielleicht mit einem ukrainischen Guerillakrieg konfrontiert wäre.

Frage: Wie wird Russland auf das Stocken der bisherigen Angriffe reagieren?

Antwort: Viele Fachleute gehen davon aus, dass die Brutalität steigen wird – entweder dann, wenn die Gefechte in den Städten in Häuserkämpfe umschlagen. Oder schon zuvor, wenn die russische Armee auch in den Städten mehr schwere Waffen einsetzt.

Frage: Es ist viel von Waffenlieferungen in die Ukraine die Rede. Um welche geht es genau?

Antwort: Letzte, eilige Lieferungen hatte es schon vor Wochen gegeben, als der Angriff sich abzeichnete: Laut einer Auflistung der Agentur Reuters haben die USA seit dem Umsturz 2014 Waffen im Gesamtwert von rund 2,5 Milliarden US-Dollar an Kiew verkauft: darunter Panzerfahrzeuge, Aufklärungsdrohnen und Nachtsichtgeräte. Zudem hat Washington die Lieferung von Stinger-Flugabwehrraketen zugesichert. Diese sind leicht, werden von der Schulter abgeschossen und können nach vergleichsweise kurzer Schulung auch von Ungeübten eingesetzt werden. Ihnen wird eine wichtige Rolle bei der Niederlage der Sowjetunion im Afghanistan-Krieg zugeschrieben. Wie wichtig sie dort wirklich waren, ist aber umstritten. Vor dem Krieg hatten auch Großbritannien und die baltischen Staaten Waffen geliefert. Auch Deutschland hat Samstag die Lieferung von Stingers an Kiew bekanntgegeben – und so ein Tabu gebrochen. Auch die EU als Ganzes will eine Plattform für Kauf und Weitergabe schaffen, Schweden kündigte von sich aus die Lieferung von 5.000 Anti-Panzer-Waffen an.

Frage: Wie kommen all diese Waffen überhaupt noch in die Ukraine?

Antwort: Vor dem Kriegsausbruch war es einfach: Sie wurden eingeflogen. Mittlerweile geht das nicht mehr. Westliche Flugzeuge würden im ukrainischen Luftraum riskieren, von russischen abgeschossen zu werden – was eine unberechenbare Kettenreaktion auslösen könnte. Wie die "Financial Times" unter Berufung auf westliche Geheimdienstquellen schreibt, sind Geschäfte über den Landweg aber weiterhin möglich. Naheliegend, aber nicht bestätigt ist, dass diese Lieferungen über die polnische Grenze in die Westukraine laufen könnten. In dieser Region sind bisher kaum russische Truppen im Einsatz. Komplizierter wäre die Sache im Fall einer vollständigen russischen Besetzung – dann müssten nichtstaatliche Guerillagruppen versorgt werden. Wie das funktionieren kann, ist völlig offen.

Frage: Sind die Waffen schnell genug dort?

Antwort: Noch scheint die Versorgung gut möglich zu sein. Das könnte sich aber ändern, wenn größere Teile der ukrainischen Streitkräfte eingekesselt werden – oder wenn es der russischen Armee gelingt, Städte zu belagern. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba betonte am Sonntag: "Jede Stunde zählt." (Manuel Escher, 27.2.2022)