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Flüchtlinge erreichen den Bahnhof im polnischen Przemyśl an der ukrainischen Grenze. Rund 370.000 Menschen sind derzeit auf dem Weg.

Foto: AP / Czarek Sokolowski

Seit zwölf Stunden steht Iwan jetzt schon am Grenzübergang bei Hrebenne auf der polnischen Seite und wartet. Seine Frau Olha und sein fast zweijähriger Sohn sind noch in der Ukraine, einem Land im Krieg.

An einem Zelt direkt neben der Straße werden heiße Getränke ausgegeben. Iwan hat sich eine Suppe in einem Pappbecher geholt. Alle paar Minuten schaut der 35-Jährige auf sein Handy, ob es Neuigkeiten gibt von seiner Frau. Neben ihm steht sein Kumpel Viktor. Sie kennen sich von der Arbeit in Warschau – Iwan ist Elektriker, Viktor ist Installateur, beide stammen aus der Ukraine. Auch Viktors Frau ist noch dort.

An polnischen Grenzübergängen zur Ukraine wie dem bei Hrebenne stehen überall Autos – auf den Seitenstreifen, auf den Parkplätzen, in langen Schlangen. Hunderte warten hier auf Familienangehörige, die aus der Ukraine über die polnische Grenze fliehen. Die Hotels nahe der Straße sind alle ausgebucht. Menschen schlafen in Autos und hoffen. Auf der anderen Seite der Grenze ist kilometerlanger Stau. Tausende sind auf der Flucht, nach Polen, nach Deutschland, Hauptsache in Sicherheit.

Verhängnisvoller Besuch

Vor genau einer Woche, erzählt Iwan, ist seine Frau mit dem Sohn von Warschau nach Kirowohrad gefahren, eine Stadt mitten in der Ukraine, 750 Kilometer von Hrebenne entfernt. Sie wollte mit dem Kleinen die Oma besuchen. Vier Tage später hat Wladimir Putins Armee die Ukraine überfallen. Um Olha herum war plötzlich Chaos und Krieg. "Ich habe seitdem nicht geschlafen, nicht gearbeitet," sagt Iwan. Man sieht es ihm nicht an. Nur seine Stimme klingt leise, als wäre es eine Anstrengung zu sprechen.

Iwan, Olha und der kleine Sohn blicken einer ungewissen Zukunft entgegen. Immerhin sind sie jetzt wieder vereint.
Foto: Jan Vollmer

Aus Kirowohrad, erzählt Iwan, ist seine Olha mit dem Zug nach Lwiw gefahren. Von dort weiter, zusammen mit Viktors Frau Ljudmila, im Auto Richtung polnische Grenze. Seit 48 Stunden, sagt Iwan, sind sie und das Kind jetzt unterwegs.

Weil vor der polnischen Grenze ein langer Stau ist, ist Olha mit dem Sohn ausgestiegen, ein Stück zu Fuß weitergegangen, dann in einen der Busse gestiegen, die über die polnische Grenze fahren sollen. "Es können nur noch ein paar Kilometer sein. Sie sagt, sie sitzen in einem roten Bus", erklärt Iwan und schaut die Straße entlang in Richtung Grenze. Viktors Frau sitzt noch im Auto irgendwo weiter hinten im Stau.

"Essen, Wasser, ein Platz im Auto"

Die meisten, die hier warten, haben ähnliche Geschichten. Es gibt Andrey aus der Südukraine, er wartet seit drei Uhr nachts hier. Eine blonde Frau hat ein Schild mitgebracht: "Essen, Wasser, ein Platz im Auto", übersetzt Iwan den Text aus dem Ukrainischen. Sie erzählt, dass sie aus Wildeshausen bei Bremen hergefahren ist, um ihre Mutter abzuholen – und dabei helfen wolle, so gut sie kann. Ihr Partner Hauke ist ebenfalls da. Und auch sein Vater ist gekommen, mit einem eigenen Auto, um noch mehr Leute mitnehmen zu können. Die Mutter berichtet per Telefon, dass auf der ukrainischen Seite der Grenze ein IT-System, der Pass-Scanner, kaputt sei. Deshalb dauere alles sehr lange.

Es gibt aber auch Autos, die zurück in die Ukraine fahren. "In die Ukraine, irgendjemand?", ruft der Fahrer eines Transporters aus dem Fenster, als er an der polnischen Seite der Grenze hält. Hinten sitzt Irina, eine Frau mit verzweifeltem Blick. Sie kommt aus Chmelnyzkyj. Was sie in dieser Situation in der Ukraine machen will, kann sie nicht genau sagen. "Ich bin aus der Ukraine. Ich fahre jetzt nach Hause", sagt sie, bevor der Kleintransporter losfährt.

Die Menschen auf der polnischen Seite der Grenze berichten von schlimmen Situationen, in denen ihre Verwandten stecken: große Gruppen von Menschen, die die letzten Meter zu Fuß gegangen sind und jetzt einfach so in der Kälte stehen und warten – mit kleinen Kindern, seit Stunden. Es soll dort kein Wasser geben, wenig zu essen, erzählen sie.

Zerrissene Familien

Als ein kleiner roter Transporter anhält, rennt Iwan plötzlich los, versucht mit der Hand die Augen zu beschatten und in den dunklen Bus zu sehen. Für ein paar Sekunden steht er dort hinter der Leitplanke. Die Tür öffnet sich, schließt sich, seine Frau Olha ist nicht drin. Nur gelegentlich kommt ein Auto über die Grenze, alle 40 Minuten vielleicht ein Bus. Warum dauert das so lange?

"Von unserer Seite aus können alle durch", sagt ein polnischer Polizist, der am Straßenrand steht. "Wie es auf der ukrainischen Seite ist, kann ich nicht sagen." Männer im wehrfähigen Alter – zwischen 18 und 60 Jahren – dürfen die Ukraine nämlich nun nicht mehr verlassen. Viele Familien stehen deshalb vor enorm schwierigen Entscheidungen. Lassen sie ihre Söhne zurück? Ihre Ehemänner?

In einem Motel direkt an der Grenze erzählt Danik, ein 20-Jähriger aus Deutschland, dass er mit Freunden und deren Familien im Konvoi hergefahren ist. "Ich war gestern noch im Fitnesscenter, da hat mein Bruder mich angerufen: 'Hast du Leute, die einen Sprinter oder einen Transit haben?' Wir sind echt die Nacht durchgefahren, um die Familie der Frau meines Bruders abzuholen." Danik sagt, sie würden am liebsten "reinfahren, wir haben ja auch extra Plätze. Aber die erwachsenen Männer kommen wenn, dann nur mit Bestechung wieder raus."

Flüchtlingslager in Grenznähe

Noch am Morgen sei, so erzählt Danik, ein Auto an ihnen vorbei in die andere Richtung gerollt. "Der Fahrer ist stehengeblieben, hat aus dem Fenster gerufen, dass wir Feiglinge sind, dass wir zum Kämpfen in die Ukraine fahren sollen. Aber bei der Übermacht ist das ja ein Abschlachten."

Fast alle Fahrzeuge, die hier derzeit über die Grenze kommen, sind voll besetzt. Auch in Lkws sitzen neben den Fahrern noch Frauen und Kinder auf den Beifahrersitzen. Ein paar Kilometer von der Grenze entfernt ist ein Flüchtlingslager eingerichtet worden. Es ist eine Erstaufnahmeeinrichtung für alle, die nicht gleich an der Grenze abgeholt werden.

Iwan ist nervös: Was, wenn der rote Bus über die Grenze kommt und gleich weiter zur Erstaufnahmeeinrichtung fährt? Mitten im Gespräch läuft Iwan plötzlich los, er hat einen großen roten Bus gesehen, läuft ihm entgegen, läuft ein paar Meter mit ihm. Er ist der Erste, der an der Fahrertür steht. "Olha!", ruft er, als sie nur einen Spalt weit aufgeht.

Eine Handtasche, etwas Spielzeug

Plötzlich hellt sich seine Miene auf. "Komm!", ruft er, hebt die Arme, drängelt sich einen Schritt in den Bus. Von der Straße aus kann man nur sehen, wie ihm jemand ein etwa zweijähriges Kind in einem blauen Kapuzenpullover entgegenstreckt. Das Kind fängt an zu weinen. Ein paar Sekunden später steigt Olha aus dem Bus, umarmt Iwan und ihren Sohn. Sie ist ruhig, als würde sie gerade aus einem Linienbus steigen.

Olha hat nur eine Handtasche und etwas Spielzeug dabei. Sie gehen an den wartenden Autos vorbei, von der Grenze weg, zu Iwans Wagen. Der trägt seinen Sohn, zeigt auf ein Flugzeug am Himmel, sagt: "Flugzeug, ja, ein Flugzeug!" Sein Sohn lacht, zeigt in den Himmel und sagt auch etwas, das so ähnlich wie "Flugzeug" klingt.

Etwas hinter ihnen wartet Viktor. Seine Frau steht noch in der Schlange auf der anderen Seite der Grenze. (Jan Vollmer, 28.2.2022)