Im Gastblog plädieren die Rechtswissenschafter Matthias C. Kettemann und Walter Obwexer für zukunftsorientierte Veränderungen im Recht.

Das Recht hat ein Gegenwartsproblem. Es ist gemacht von uns, die wir hier sind, und fokussiert auf aktuelle Rechtsgüter. Das ist nicht gut. Der Blick des Rechts muss weiter und tiefer werden – und das Recht muss sich wandeln.

Ubi societas, ibi ius, wo es eine Gesellschaft gibt, gibt es auch Rechtdas gilt über den langen Zeitraum der menschlichen Sozialisation ebenso wie im digitalen Zeitalter. Oder wie es der Jurist Malcolm N. Shaw in den ersten Zeilen seiner Einführung in das Völkerrecht formulierte: "Auf dem langen Marsch der Menschheit von der Höhle zum Computer hat die Idee des Rechts immer eine zentrale Rolle gespielt – die Idee, dass Ordnung notwendig ist und Chaos einer gerechten und stabilen Existenz entgegensteht."

Dieses Chaos könnte drohen. Dies deshalb, weil das Recht und seine Akteurinnen und Akteure – vom Gesetzgeber über die Gerichte bis hin zu den Rechtswissenschafterinnen und Rechtswissenschaftern – der Tragödie des Horizonts zu unterliegen drohen. Was verstehen wir darunter? Schon 2015 sagte der Gouverneur der Bank of England, Mark Carney, dass der Klimawandel künftigen Generationen Kosten auferlegen wird, für die die heutige Generation "keinen direkten Anreiz hat, sie zu beheben". Wirtschaftliche und politische Zyklen sind an Horizonte gebunden: eine Legislaturperiode, vielleicht zwei.

Nicht so lange warten!

Es gibt aber auch andere Entwicklungen. So betonte das deutsche Bundesverfassungsgericht im letzten Jahr, dass die Freiheiten der heutigen Menschen nicht zulasten der Freiheiten der nächsten Generation gehen dürfen. Neben dem moralischen Argument, heute gute Regeln zu setzen, um unter anderem das Klima zu schützen, streiten auch handfeste rechtsökonomische Argumente für eine zukunftssensible Regulierung eher früher als später: Je länger wir warten, desto teurer und einschneidender werden die Maßnahmen. Nur weil wir diese Kosten lange externalisiert (besser sogar: extemporalisiert, also der nächsten Generation aufgebürdet) haben, ging die Rechnung bislang auf.

Wie sollte das Recht der Zukunft aussehen?
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Das zentrale Instrument zur Lenkung von Gesellschaften in Richtung zukunftsgerechter Entscheidungen ist das Recht als Instrument der Rationalisierung gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse, als Entscheidungslastminimierer, als codierte Form von gesellschaftlicher Macht (im Guten wie Schlechten). Doch wie muss das Recht sich verändern, um zukunftsorientiert regulieren zu können? Dazu fünf Thesen.

Das Recht muss menschlicher werden. Menschenrechte müssen eine zentrale Rolle in einem zeitgemäßen Verständnis des Rechts einnehmen. Dabei gilt es, die Rechte und Freiheiten des Einzelnen zu schützen, sofern diese nicht in die Rechte der anderen eingreifen. Menschenrechtlich geboten ist, Verantwortung zu tragen für die Umwelt und für die Demokratie. Die Rechte Einzelner und die Rechtsgüter der Gesellschaft sind auch in privaten Räumen und gegen mächtige private Kommunikationsakteure zu verteidigen – genauso wie gegen kleine Gruppen versprengter Feinde von Staat, Wahrheit und Rationalität.

Das Recht muss verständlicher werden. Regeln müssen klar sein. Ohnmachtsgefühle gegenüber einer Entscheidung beschädigen das Rechtsvertrauen. Das betrifft namentlich automatisierte Entscheidungen und algorithmische Entscheidungssysteme, bedeutet aber auch, dass Entscheidungen erklärungs- und begründungspflichtig sind. Nur wer versteht, wie über Rechte und Pflichten verfügt wird, wird diese Verfügung akzeptieren. Das heißt auch: Zugang zum Recht zu erleichtern, Rechtsnormen in einfacher Sprache zu formulieren, bessere Legistik.

Die berühmte Freude am Lösen von Denksportaufgaben sollte dem morgendlichen Wordle gewidmet werden, nicht der Suche nach dem Sinn einer Norm. Wenn selbst Juristinnen und Juristen die vielzählig ergehenden Absonderungsbescheide zweimal lesen müssen, dann läuft etwas schief. Ein Staat muss das Ziel verfolgen, dass das Recht, das er setzt, verstanden und akzeptiert wird, und darf sich nicht hinter der Macht der Sprache als Sprache der Macht verstecken. Das ist das Gegenteil der Herrschaft des Staatsvolkes.

Das Recht muss inklusiver werden. Recht ist für alle da. Und Recht muss alle schützen. Unabhängig von Genderidentität, Migrationsgeschichte, Bildungsstand. Niemand darf übersehen und ungerechtfertigt benachteiligt werden. Gerade marginalisierte Gruppen müssen verstärkt in demokratische und in rechtliche Prozesse einbezogen werden. Ein inklusives Bildungssystem ist Grundvoraussetzung. Hier hat gerade die Corona-Krise zu Rückschritten geführt, die rasch wieder wettgemacht werden müssen.

Das Recht muss europäischer und internationaler werden. Konzerne agieren international, grenzüberschreitende Kontakte sind die Normalität. Digitalisierung trägt dazu bei, dass die Trennlinien häufig nur mehr im Kopf zu finden sind; leider gibt es sie aber nach wie vor im Recht. So hat beispielsweise die Corona-Pandemie – wie jede größere Krise – gezeigt, dass europäische und internationale Antworten erforderlich sind. Dem folgend muss auch das Recht in größere Kontexte gesetzt werden. Neben Völker- und Europarecht haben immer mehr Rechtsgebiete, etwa das Internetrecht, trans- und internationale Dimensionen. Nationale Gesetzgeber können sich inspirieren lassen von Dialogen mit anderen Parlamentarierinnen und Parlamentariern und globales Verwaltungsrecht, etwa in den Pisa-Studien, ordnet nationale Prioritäten neu – was im Einzelfall durchaus kritisiert werden kann. Globalisierung und Europäisierung lassen sich durch Recht formen; aber dafür muss das Recht als Instrument zur Regelung europäischer und internationaler politische Prozesse ernst- und wahrgenommen werden.

Das Recht muss nachhaltiger werden. Gemeinsame Einschätzungen darüber, was in einer Gesellschaft gut und richtig ist, werden seltener. Gesellschaftliche Diskursräume brechen auseinander. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist – nicht zuletzt in pandemischen Zeiten – großen Herausforderungen ausgesetzt. Wir schulden der nächsten Generation nicht nur ein gutes Weltklima, eine Umwelt, sondern auch ein soziales Klima, ein Umfeld, in dem sie sich entwickeln können. Das letzte Jahrzehnt der Entwicklung sozialer Medien zu wichtigen Kommunikationsräumen hat gezeigt, dass Staaten die Gestaltung der Rahmenbedingungen demokratierelevanter Kommunikationsprozesse nicht privaten Unternehmen und deren auf Profitmaximierung getrimmten algorithmischen Aufmerksamkeitsmaschinerien überlassen dürfen. Auch die Unternehmen selbst haben das erkannt und steuern dagegen. Doch wie genau etwa die Freiheit öffentlicher Meinungsfindung staatlicherseits gefördert werden kann, ist nicht trivial. Europäische Rechtsakte zu digitalen Diensten, Märkten, Daten und Algorithmen stellen hier normative Leitplanken auf.

Heute die Rechte von morgen sichern

Vom Kampf gegen den Klimawandel bis zur nachhaltigen Digitalisierung und digitalisierten Nachhaltigkeit: Recht muss heute die Rechte von morgen sichern. Welche Schritte zeichnen sich ab? Der Blick auf das Recht als Instrument der Ordnungsbildung muss weiter und tiefer werden. Die Rede vom herrschenden Recht als Recht der Herrschenden ist ein Allgemeinplatz. Recht muss, richtig verstanden, aber nicht nur das Recht der Herrschenden sein, sondern eine normative Ordnung aus Verantwortung und eine Ordnung der Verantwortung. Normen, die gesetzt werden, müssen jedem Menschen gegenüber gerechtfertigt werden können; Entscheidungen (auch automatisierte) müssen erklärbar und begründbar sein. Die Welt ist komplex genug, das Leben anspruchsvoll; das Recht muss als ordnungsbildende Kraft für Klarheit, für Vertrauen, für Verständnis sorgen, Konflikte austarieren, grund- und verfassungsrechtliche Positionen gegeneinander abwägen, die Rechtsgüter der Einzelnen und die Rechtsgüter der Allgemeinheit in eine praktische Konkordanz bringen.

Für das nationale, das europäische und das internationale Recht unserer Generation gilt: Recht muss heute die Freiheiten von morgen sichern. Es ist in einer aufgeklärten Gesellschaft die beste Hoffnung, die die Freiheit hat. Und den Kämpfen, die das Recht für die Freiheit führt, werden wir hier Raum geben. Recht muss über das Heute blicken und die Herausforderungen von morgen mitdenken und mitregulieren. Der Tragödie des Horizonts ist mutig entgegenzutreten, schon indem dieser begrifflich umgedeutet wird. Der Horizont kommt vom griechischen Wort hóros, das Grenze bedeuten kann. Unser Horizont begrenzt unser Sichtfeld. Hóros kann aber auch Ziel bedeuten, und das kommt der Rolle des Rechts, so wie es zeitgemäß und generationengerecht verstanden werden soll, schon näher.

Fragen wir uns, wenn wir Urteile kritisieren, Gesetze kommentieren, gesellschaftliche Entwicklungen hinterfragen, nicht nur – und nicht vor allem –, was diese Urteile, Gesetze, Entwicklungen für uns bedeuten, sondern blicken wir auf das Ziel des Rechts: den Schutz der Würde des Menschen und der Sicherung einer Ordnung, die diese Würde noch über Generationen garantiert.

Um mit Wittgenstein zu enden: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Juristinnen und Juristen müssen beginnen, sich maßgeblich mit der Zukunft zu beschäftigen und mit der Verantwortung, zukünftige Freiheiten schon heute zu sichern. Und schweigen sollten sie über die Herausforderung nicht, sondern in einen produktiven Diskurs eintreten. (Matthias C. Kettemann, Walter Obwexer, 3.3.2022)