Bei allen Tabus, die seit dem russischen Überfall auf die Ukraine vergangene Woche in Europa gefallen sind, scheint eine rote Linie zu halten: Weder die Nato noch eine westliche Regierung ist bereit, eigene Truppen in das Kriegsgebiet zu schicken, um der Ukraine bei ihrer Verteidigung zu helfen.

Wladimir Putin vertraut dieser Position allerdings nicht. Anders ist die Drohung des Kreml mit dem russischen Atomarsenal nicht zu verstehen. Sie richtet sich nicht gegen die Ukraine, wo ja auch eigene Soldaten getroffen werden würden, sondern gegen den Westen – und enthält eine klare Botschaft: Wenn ihr es wagt, in den Krieg einzugreifen, dann droht der nukleare Weltkrieg.

Ein Sieg in der Ukraine würde Wladimir Putin Appetit auf weitere Aggressionen machen.
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An sich würde kein rational denkender Politiker ein solches Szenario auch nur erwägen, denn dies hätte auch die eigene Vernichtung zur Folge. Aber Putin nutzt hier eine bewährte Taktik, um Ziele durchzusetzen: Er spielt den Verrückten, dem alles zuzutrauen ist, und hält so die vernünftigere Gegenseite in Schach. Noch schlimmer ist eine andere Lesart: Der Kreml-Chef ist tatsächlich verrückt geworden und ist bereit, die Welt in die Luft zu sprengen.

Für den Westen verschärft sich dadurch das Dilemma, das seit vergangenem Donnerstag entstanden ist. Denn Putins Angriffskrieg bedroht nicht nur alles, wofür der Westen steht, sondern auch Europas reale Sicherheit: Ein Sieg in der Ukraine würde ihm Appetit auf weitere Aggressionen machen.

Die USA, die EU und Großbritannien dürfen daher nicht zulassen, dass er sein Ziel erreicht und die gesamte Ukraine erobert. Das erklärt, warum die Sanktionen laufend verschärft werden und Kiew ständig neue Waffenangebote erhält. Das sind nicht nur Signale des Protests, wie die Sanktionen nach der Krim-Annexion 2014, sondern gezielte Schritte, um Putins Militärmaschine zu stoppen.

Das ist eine Form des Krieges: Europa steht bereits im Krieg mit Russland.

Aussicht auf Nuklearkrieg

Daher sind in Zukunft Militäreinsätze aus dem Westen nicht völlig ausgeschlossen – auch wenn niemand sich das wünscht. Es wird sich wohl keine Armee in Bewegung setzen. Aber in der britischen Regierung wird bereits darüber diskutiert, ob man Freiwillige in die Ukraine ziehen lassen soll, in Lettland hat das Parlament dies bereits erlaubt.

Und wie würden die Europäer reagieren, wenn russische Truppen Zivilisten massakrieren? Würden dann nicht lautstark die Rufe nach einem Friedenseinsatz erschallen, etwa durch britische oder französische Elitesoldaten? In Mali soll die Weltordnung verteidigt werden, im Herzen Europas aber nicht?

Gäbe es nicht die russische Atommacht, dann wäre die Antwort klar. Doch so furchtbar die Aussicht auf einen Nuklearkrieg auch ist, dürfen sich wehrhafte Demokratien von unberechenbaren Tyrannen nicht erpressen lassen. Und wenn Putin tatsächlich zu allem bereit ist, dann reicht schon sehr wenig, damit er sich provoziert fühlt.

Für dieses Dilemma existiert keine gute Lösung. Es ist sicher vorteilhaft, wenn sich die USA zurückhalten; sie sind für Putin das rote Tuch. Europa kann und soll hier führen. Wichtig wäre es, bei allen weiteren Schritten den Russen Auswege aus der Krise offenzuhalten, bei denen sie ihr Gesicht bewahren können. Doch auch dies wird immer schwieriger.

Jedenfalls muss sich der Westen bewusst sein, dass in der Ukraine ein europäischer Krieg tobt – und muss gut überlegen, wie dieser Krieg zu gewinnen ist. (Eric Frey, 1.3.2022)