Die ukrainische Delegation mit Verteidigungsminister Olexij Resnikow (2. v. li.) trifft zu Gesprächen in Belarus ein.

Foto: AFP / Sergei Kholodilin

Am Stadtrand von Charkiw steht eine ausgebrannte Militärkolonne. Den T-72 hat es schwer erwischt. Der Turm mit der Bordkanone liegt abgerissen am Wegrand, zwischen den Bäumen steht ein zerschossener Armeelaster. Dann schwenkt die Kamera auf einen Tigr. Der gepanzerte Geländewagen gehört zur neuen Ausrüstung der russischen Streitkräfte und kam bei der russischen Annexion der Krim erfolgreich zum Einsatz.

Der Erfolg beim neuesten militärischen Abenteuer Wladimir Putins ist hingegen begrenzt. Auch der Tigr ist zerschossen und leer. Immer mehr solcher Videos sind in den letzten Tagen aufgetaucht: brennende russische Panzer, zerstörte Militärtransporter, herrenlose Benzinlaster, Leichen oder Gefangene.

Das russische Verteidigungsministerium hat – Stand Montag – erst zwei Gefallene auf eigener Seite eingeräumt. Die ukrainische Seite beziffert die russischen Verluste auf 5300 an Gefallenen und Verwundeten. Die Angaben beider Seiten sind sicher falsch, da sie gewöhnlich die eigenen Verluste verschweigen und die des Gegners überhöhen.

Doch dass die russischen Verluste wesentlich höher sind als vom Kreml gedacht, ist offensichtlich. Allein aus den bisher zweifelsfrei veröffentlichten Bilddokumenten geht hervor, dass die Streitkräfte weit über 100 Militärfahrzeuge verloren haben.

Erbitterter Widerstand

Das liegt einerseits am erbitterten Widerstand der Ukrainer, mit dem man in Moskau augenscheinlich nicht gerechnet hat. Zum anderen liegt es an der aus militärischer Sicht zweifelhaften Taktik, derer sich Russlands Streitkräfte bislang bedienen: Dies beklagte zuletzt sogar überraschend der selbsternannte Infanterist Putins, Ramsan Kadyrow. Er echauffierte sich, dass der Gegner zu "zimperlich" angegangen werde. Allein mit Geländewagen wie Tigr und UAZ oder Ural-Lastern ließen sich Kiew und Charkiw nicht einnehmen. Kadyrow forderte die volle Koordination der Kräfte und "einen entschlossenen Sturm".

Rein taktisch hat Kadyrow recht. Die russischen Verbände operieren unlogisch, konstatiert auch Michael Kofman, Spezialist für die russischen Streitkräfte beim Washington-basierten regierungsnahen Thinktank CNA. "Sie fahren in kleinen Gruppen die Straßen entlang und schicken Aufklärungseinheiten und Fallschirmjäger voraus. Panzer ohne Infanterie. Bei ihnen läuft alles schlecht, weil sie gewöhnlich nicht so kämpfen", analysiert er.

Artillerie gegen Städte

Doch was wäre die Alternative? Bei der drückenden militärischen Überlegenheit der russischen Streitkräfte gegenüber den Ukrainern wäre der Kampf bei einem koordinierten Einsatz von Artillerie und Luftwaffe sowie der Unterdrückung des ukrainischen Funkverkehrs zur Vorbereitung des Vorstoßes eigener Panzer- und Infanterieverbände innerhalb kürzester Zeit entschieden.

Artillerie- und Luftwaffenschläge hätten allerdings gravierende Nebenwirkungen: Die Anzahl der zivilen Opfer würde sprunghaft steigen. Schon jetzt berichtet Kiew von über 350 toten Zivilisten. Beim Beschuss der Städte würde sich diese Zahl vervielfachen.

Dies ist aus innenpolitischen Gründen für Putin schwierig. Der Kreml verkauft den Krieg dem eigenen Volk als Friedensmission. Der Einsatz diene dem Schutz der russischsprachigen Bevölkerung – speziell der Menschen im Donbass, die laut Moskauer Lesart in der Ukraine von Nationalisten unterdrückt werden. Unter diesem Aspekt stimmten tatsächlich zunächst viele Russen dem Einsatz zu.

Allerdings wendet sich die Stimmung schon jetzt langsam, sogar unter der Elite. Nicht nur mehren sich Proteste und Petitionen gegen den Krieg. Inzwischen haben vier Duma-Abgeordnete, die die Anerkennung der Separatisten unterstützt haben, den Krieg gegen die Ukraine verurteilt. Der Tenor: Die Anerkennung sei erfolgt, um die Bombardierung von Donezk zu beenden, nicht damit Kiew bombardiert werde.

Rückhalt droht zu schwinden

Wenn Bilder zerstörter Städte und getöteter Zivilisten in Russland die Runde machen, droht Putin endgültig, den Halt in der eigenen Bevölkerung zu verlieren. Das will er vermeiden. Auf der einen Seite geschieht das durch eine strikte Zensur der Medien, aber ganz lässt sich die russische Informationslandschaft nicht von der Außenwelt abschirmen.

Daher steht der Kremlchef nun vor einem Dilemma: Führt er den Kampf in der bisherigen Form weiter, so droht ihm womöglich am Ende eine peinliche Niederlage. Wechselt er jedoch die Taktik, dann droht die Anzahl der zivilen Opfer in unserer neuen Medien- und Bildergesellschaft ihm innenpolitisch Proteste einzubringen, die weit über das Niveau der jetzigen Demonstrationen hinausgehen und die tatsächlich zu einer Spaltung auch innerhalb des engsten Führungszirkels führen könnten, den Putin erst kurz vor dem Einmarsch auf der Sitzung des Sicherheitsrats zur Loyalitätserklärung verdammt hat.

Gefechte am Montag in Charkiw deuten darauf hin, dass sich Putin für die harte Variante entschieden hat. Videos aus der ostukrainischen Millionenstadt zeigen Feuergefechte im Stadtzentrum. Dabei wurden allem Anschein nach auch Raketenwerfer eingesetzt, deren Streubeschuss massive Zerstörungen in den Wohnvierteln angerichtet hat.

Macron telefonierte mit Putin

In einem Telefonat hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seinen russischen Amtskollegen Putin am Montag aufgefordert, vor allem Offensiven gegen Zivilisten zu beenden. So sollten etwa Angriffe auf Wohnviertel eingestellt werden, verlangte Macron. Auch solle Putin dafür Sorge tragen, die zivile Infrastruktur in der Ukraine zu bewahren. Putin habe sich gewillt gezeigt, an diesen Punkten zu arbeiten, hieß es im Anschluss an das Gespräch aus Paris.

Der Kreml wiederum erklärte, eine Einigung mit der Ukraine sei "nur möglich, wenn die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands bedingungslos berücksichtigt würden." Dazu gehöre unter anderem die Anerkennung der Souveränität der 2014 von Russland annektierten Schwarzmeerhalbinsel Krim und eine Entmilitarisierung der Ukraine.

Ukrainisch-russische Verhandlungen

Ganz anders die Forderungen Kiews vor Verhandlungen mit Russland, die am Montag an der belarussisch-ukrainischen Grenze geführt wurden: Schlüsselthemen der Gespräche seien die Einstellung des Feuers und der Abzug der Truppen aus der Ukraine, hieß es in der ukrainischen Delegation. Immerhin: Dass beide Seiten überhaupt miteinander reden wollten, galt im Vorfeld zumindest als Hoffnungsschimmer. Gleichzeitig waren die Erwartungen aber von Anfang an gedämpft.

Uneinigkeit hatte bereits rund um die Wahl des Tagungsortes geherrscht. Das belarussische Grenzgebiet war am Ende ein Kompromiss, mit dem beide Seiten leben konnten. Unproblematisch blieb dieser jedoch nicht: Belarus ist mit Russland verbündet. Sogar die Anreise stand nicht im Zeichen des bilateralen Gleichgewichts. Die russische Delegation warte "schon lange", beklagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Montag in Moskau. Die Gespräche hätten bereits früher beginnen können, "aber die Gegenseite ist gerade erst angereist". Laut ukrainischen Berichten jedoch kam das Treffen deshalb nicht früher zustande, weil sich die Fahrt durch das eigene Land wegen der Gefechte schwierig gestaltet habe.

Atomdrohungen vor Gesprächen

Dass Moskau seine Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt hat, galt als Verstärkung des Drucks auf den Westen – und dadurch auch auf die Unterhändler der Ukraine. Angesichts des Angriffs auf sein Land und der anscheinend unversöhnlichen Positionen war deren Präsident Wolodymyr Selenskyj schon im Vorfeld pessimistisch geblieben: "Ich glaube nicht an ein Ergebnis dieses Treffens, aber lasst es uns versuchen."

Noch am Montag endeten die Verhandlungen ergebnislos, die Delegationen reisten zu Beratungen in die Hauptstädte zurück. Immerhin will man aber offenbar weiterreden: Beide Seiten hätten eine Reihe von Hauptthemen festgelegt, bei denen "bestimmte Entscheidungen" getroffen werden müssten, sagte ein ukrainisches Delegationsmitglied nach dem Treffen.

Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag will unterdessen Ermittlungen wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen in der Ukraine einleiten. Chefankläger Karim Khan sprach am Montagabend von Hinweisen auf "Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit". (red, 28.2.2022)