DER STANDARD bringt eine Übersetzung der Reportage in Russisch und Ukrainisch.

Nie im Leben hätte das Allerschlimmste passieren sollen, doch vergangene Woche am Donnerstag um 4.30 Uhr Kiewer Zeit ist der Ernstfall tatsächlich eingetreten. Während ich noch vor kurzem eine vollständige russische Invasion in die Ukraine für unwahrscheinlich gehalten hatte, haben mich die meisten Bekannten nach der Ukraine-Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin am Montag vor einer Woche nun übereinstimmend gefragt, wieso ich denn plötzlich so schlecht wie nie zuvor aussehe. Am Mittwoch, dem Tag vor dem russischen Angriff, war meine Aufregung am größten.

Mühsame Ausreise aus dem Kriegsgebiet.
Foto: AFP / Daniel Leal

Lange nach der Sperrstunde saß ich mit dem Personal meines Stamm-Georgiers im Stadtteil Podil, wo ich sehr viele Texte schreibe, zusammen. Wir plauderten, wir tranken Bier – und ich versuchte, sowohl mich selbst als vor allem auch die verzweifelten jungen Männer und Frauen dort, die sich von einem Journalisten eine realistische und womöglich hoffnungsvolle Lageeinschätzung wünschten, zu beruhigen. Doch hoffnungsvoll klang ich überhaupt nicht. Jedenfalls nicht mehr.

Eine brutale neue Welt

Gestern, Montagmorgen, hat Mykyta, der Chef des georgischen Restaurants, via Videoanruf bei mir angeläutet. "Ich bin wieder im Lokal", erzählte er. "Wir werden jetzt einmal als karitative Essensausgabestelle fungieren", sagt Mykyta, er ist Anfang 20.

Noch vor anderthalb Wochen wäre das in Kiew unvorstellbar gewesen, jetzt ist das plötzlich die Realität. Als ich damals mitten in der Nacht nach dem Gespräch mit ihm und seiner Belegschaft mit dem Taxi nach Hause gefahren war, hatte ich mir noch ein Bier gekauft. Das ist in Kiew nach 23 Uhr eigentlich verboten, die wichtigste Supermarktkette interessiert sich aber wenig dafür.

Für den Fall der Fälle hob ich vorsorglich etwas weniger als umgerechnet 200 Euro vom Geldautomaten ab. Dass etwas passieren würde, war mir damals bereits vollkommen klar. Dass ich in wenigen Stunden aus meiner Wohnung in einem Kiewer Randbezirk laute Explosionen hören würde, war für mich zu dem Zeitpunkt dennoch unvorstellbar.

Fatalistische Symbolik: Nur leicht weht die Flagge der EU in Kiew, jene der Ukraine gar nicht.
Foto: Denis Trubetskoy

Doch nicht Explosionen rissen mich in dieser Nacht aus dem Schlaf, denn schlafen konnte ich ohnehin nicht. Die Sorge hielt mich wach. Irgendwann schaltete ich das Handy ein und sah plötzlich auf unterschiedlichsten Telegram-Kanälen, dass Putin angeblich eine sogenannte Sonderoperation in der Ukraine bewilligt hatte.

Putins De-facto-Kriegserklärung

Ich wusste sofort: Faktisch war das eine klare Kriegserklärung. Vollkommen geschockt stand ich auf, konnte nicht klar denken, zitterte eine Viertelstunde lang. Dann gab ich mir einen Ruck, packte schnell meinen Rucksack – fast alles außer meine Dokumente und den Laptop ließ ich zu Hause, und fuhr schnell mit einem Taxifahrer, der einen horrenden Preis verlangte, wohl fast fünfmal höher als sonst, zu einem Kollegen in die Innenstadt.

Allein in der Wohnung bleiben wollte ich am Anfang des Krieges keinesfalls, deswegen war mir klar, dass ich jetzt sofort gehen musste, solange die Taxis noch fuhren. Was mir ebenfalls klar wurde: Arbeiten werde ich in den nächsten Tagen nicht mehr können. Denn es ist etwas passiert, was alles andere komplett in den Schatten stellt. Nur ein paar Radioanfragen konnte ich erledigen, doch auch damit war schnell Schluss, obwohl meine Mailbox explodierte wie noch niemals zuvor. In der Innenstadt angekommen, tippte ich vorerst meiner auf der Krim lebenden Mutter eine SMS: "Ich prüfe die Sicherheitslage immer wieder neu und habe Pläne für diverse Szenarien", schrieb ich ihr, um sie zu beruhigen.

Mir wurde recht schnell klar, dass das abgehobene Geld wohl nicht reichen würde. Als ich loszog, um mehr zu besorgen, zeigte sich auf den Straßen ein apokalyptisches Bild: Die Menschen waren von dem russischen Angriff vollkommen überrascht und absolut fassungslos.

Von Minute zu Minute stieg die Anzahl der Kiewer, die sich vor unterschiedlichen Bankautomaten versammelten. Mit steinernen Gesichtern rannten die Menschen zum nächsten Supermarkt, um für Vorräte zu sorgen. Und die Panik, die in den ersten Stunden noch nicht zu spüren war, begann langsam aufzusteigen und die Menschen zu überwältigen.

Viele Menschen suchten zu Beginn der Invasion in der Kiewer U-Bahn Schutz. Sie übernachteten auch unterirdisch.
Foto: Denis Trubetzkoy

Dunkle Stunden

Was ich in den ersten Tagen des russischen Angriffs erlebte, waren die mit Abstand schwersten und dunkelsten Stunden meines Lebens – und das, obwohl es vielen Menschen noch deutlich schlechter ging als mir. Bereits die russische Annexion der Krim, meiner Heimathalbinsel, im März 2014 war für mich ein persönliches Trauma, doch nun fühlte sich alles um ein Vielfaches schlimmer an. Wie schnell der Krieg aber zum Alltag wird. Ständig waren nun die Explosionen zu hören, die Luftschutzsirenen wurden erstaunlich rasch vertraut – ebenso das hastige Rennen zum nächsten Luftschutzkeller, der in unserem Fall der nächste U-Bahnhof war.

Weil wir zwar nicht zu nah, aber doch auch nicht zu weit entfernt vom Regierungsviertel waren, zogen wir am zweiten Tag des Krieges in ein Minihotel am anderen Stadtrand um – wieder zu einem vollkommen überteuerten Preis. Aus jeder Krise zieht auch jemand seinen Nutzen. Dort war es zumindest ruhiger, doch unsere Hoffnung, dass wir hier den Luftschutzsirenen entkommen würden, war trügerisch. Wir verbrachten auch hier einige Zeit im Hotelkeller.

Am Samstag stand fest, dass wir die Hauptstadt, die das Hauptziel des russischen Angriffs ist, eigentlich verlassen müssten. Doch das wollten alle anderen auch. Wir waren hin- und hergerissen, denn es war längst nicht klar, ob der Ausreiseversuch oder das Bleiben unter diesen Umständen gefährlicher wäre.

Doch wir hatten Glück. Dank des Tipps eines weiteren Kollegen nutzten wir eine Umgehungsstraße, auf der sich plötzlich und wie durch ein Wunder der Stau auflöste. Überraschend problemlos konnten wir Kiew verlassen, kurz vor Verhängung einer anderthalb Tage dauernden Ausgangssperre.

Gefährliche Reise

Was danach folgte, waren aber gezählte 15 Checkpoints der ukrainischen Armee, der Polizei oder der territorialen Verteidigungseinheiten, bis wir unser Ziel, ein Provinzdorf im südwestlichen Regierungsbezirk Schytomyr, erreicht hatten.

Erst dort konnte ich mich ein bisschen beruhigen, doch nach wie vor fehlt von einer wirklichen Ruhe, wie ich sie vor diesen Tagen kannte, jede Spur. Dafür habe ich zu viel mit meinen in Kiew gebliebenen Freunden telefoniert, die die nächsten dramatischen Tage teilweise allein in der unter Beschuss stehenden Stadt erleben müssen.

Bild nicht mehr verfügbar.

500.000 Menschen haben die Ukraine bereits verlassen, viele davon – so wie dieses Paar – nach Rumänien.
Foto: Foto: AP / Petr David Josek

Ich bin immer noch fassungslos. Nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Donbass-Krieges 2014 hat die Atommacht Russland einen Nachbarstaat angegriffen, der überhaupt keine Gefahr für Moskau dargestellt und keinen einzigen Grund für diesen Krieg geliefert hat.

Nun ist die historische, oft schwierige, aber sehr tiefe Beziehung zwischen der Ukraine und Russland auf Jahrzehnte hinaus komplett zerstört. Auch das ist eine Tragödie für alle Beteiligten. Daraus resultiert aber eine unglaubliche und nie dagewesene Einigkeit der ukrainischen Gesellschaft, die sich schnell vom ersten Schock erholt hat und nun alles dafür tut, um den russischen Angriff abzuwehren – sei es an der Front oder im Hintergrund.

Durch diesen schrecklichen Krieg hat Moskau im Endeffekt nur das bestätigt, was seit acht Jahren eigentlich bereits klar ist: Niemand vereint die Ukraine so erfolgreich wie Wladimir Putin. (Reportage: Denis Trubetskoy, 1.3.2022)

DER STANDARD