Russische Truppen auf der Krim unterwegs Richtung Landesinneres.

Foto: EPA/STRINGER

Russische desertierende Soldaten haben in der EU Anspruch auf Asyl. Warum, weiß Rechtsanwalt Clemens Lahner im Gastblog.

Kriege werden im 21. Jahrhundert zwar mit verschiedensten Waffen und zunehmend auch im virtuellen Raum ausgefochten, aber auch heute braucht es für einen Krieg noch Soldaten. Was aber, wenn die Soldaten nicht kämpfen wollen? Was wird dann aus dem Krieg? Und was wird aus den Soldaten?

Wer vom Militär seines Heimatstaates zum Kriegsdienst einberufen wird und aus welchem Grund auch immer nicht Folge leistet oder sich zu einem späteren Zeitpunkt unerlaubt von der Truppe entfernt, gilt als Deserteur. Die Gesetze des jeweiligen Staates sehen dafür in der Regel Strafen vor, wobei die Faustregel gilt: Je autoritärer und militaristischer der Staat, desto drakonischer die Strafen für Deserteure – und desto grausamer meist auch die tatsächliche Behandlung in Gefängnissen und Straflagern.

Umstände im Heimatland

Ob ein Deserteur, der vor der drohenden Bestrafung aus seiner Heimat flieht und einen Asylantrag stellt, Anspruch auf Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention hat, kommt auf seine Motive an, insbesondere aber auf die Umstände in seinem Heimatland:

Wer aus einem demokratischen Rechtsstaat flieht, weil er sich nicht an dessen Verteidigung im Kriegsfall beteiligen möchte, und deshalb eine mehrmonatige Freiheitsstrafe unter durchschnittlichen Haftbedingungen zu erwarten hat, dessen Chancen auf Asyl oder subsidiären Schutz stehen schlecht.

Wer aber aus einem autoritär regierten Staat flieht, weil er dort gezwungen wäre, sich an einem völkerrechtswidrigen Überfall auf ein Nachbarland und/oder an Menschenrechtsverletzungen zu beteiligen, und ihm deshalb ein Strafverfahren unter Verletzung internationaler Standards und eine hohe Freiheitsstrafe unter unmenschlichen Bedingungen drohen, der ist Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention.

Anrecht auf Schutz in der EU

Konkret, in Bezug auf den aktuellen Angriff der Russischen Föderation auf die Ukraine: Jeder russische Soldat, der sich nicht am völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine beteiligen möchte und deshalb desertiert und in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union flieht, hat ein Recht auf Asyl. Er hat ein Recht auf Schutz, legalen Aufenthalt, Unterkunft, notwendige soziale Unterstützung, Zugang zum Arbeitsmarkt und Ausstellung eines Konventionsreisepasses.

Natürlich riskiert jeder russische Deserteur sein Leben, weshalb man keinem russischen Soldaten leichtfertig dazu raten kann, zu desertieren. Aber auch im Krieg in der Ukraine wäre sein Leben in Gefahr. Und wer darüber nachdenkt, die Waffe niederzulegen und zu laufen, der sollte wissen, dass er in der Europäischen Union ein Anrecht auf Schutz hat. Und dass es hier Menschen gibt, die ihn unterstützen werden.

Massenzustromrichtlinie wird in Kraft gesetzt

Ukrainische Deserteure hätten in einem Asylverfahren wohl deutlich schlechtere Erfolgsaussichten beziehungsweise wäre zu prüfen, welche Gefahren ihnen – aktuell und mittelfristig – in der Ukraine drohen. Die Antwort darauf hängt auch davon ab, wie und wann der Krieg endet.

Die Frage stellt sich vorerst aber nicht, da die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten angekündigt haben, in Bezug auf aus der Ukraine vertriebene Menschen die Massenzustromrichtlinie1 in Kraft zu setzen, sodass diese gar keinen Asylantrag stellen müssten, sondern zumindest vorübergehend Schutz erhalten würden. (Clemens Lahner, 3.3.2022)