Vergangenen Sonntag war "Tag des Eisbären". Normalerweise eine aufgelegte Sache für launige, aber doch ein bisserl tiefgründige Postings auf Social Media. Normalerweise. Aber "normalerweise", meinte die Kollegin aus der Social-Media-Abteilung, gibt es nicht. Nicht mehr. Und für sie auf Sicht auch so bald eher nicht.

Ich verstehe das. Ich saß ja auch mehr als unschlüssig vor der Liste möglicher Themen: Tech und Gadgets? Dusika-Trauer? Der Mann, der die Donau flussabwärts bis ins Schwarze Meer durchschwimmen will – und die Frau, die ihn in Wien begleiten möchte? Vorfreude auf Bewerbe und Events?

Nett – aber: siehe oben.

Seit die Kollegin den "Tag des Eisbären" erwähnte, hatte ich ein Mantra im Kopf. Drei Zeilen aus dem Uralt-Hit von Grauzone: "… dann müsste ich nicht mehr schrei'n – alles wär' so klar: Eisbären müssen nie weinen."

Foto: Tom Rottenberg

Ich nahm den Song mit auf meinen Sonntags-Longrun: Schreien nutzt nichts. Aber: "Eisbären müssen nie weinen" – und beim Laufen kommen Tränen nur vom Wind – auch wenn das plump gelogen ist.

Laufen ist ein Ausweg. Nicht dass man vor der Wirklichkeit davonrennen könnte. Nicht dass Laufen irgendwas für irgendwen irgendwo tatsächlich ändert. Aber der Ortswechsel lenkt ab. Der Rhythmus, die Gleichmäßigkeit, das Synchronisieren von Schritten, Atmung und Gedanken auch.

Und die Reize von außen – egal ob Umweltgeräusche oder Musik: Dem Kopf eine Auszeit zu geben ist wichtig. Sie bricht die Endlosschleife aus Schreckensnachrichten und dem Dröhnen der sie begleitenden Angst und Ohnmacht. Zumindest bei mir.

Foto: Grauzone

Normalerweise gehöre ich zu jenen Menschen, die bei den langen, langsamen Läufen gerne Gesellschaft haben. Die sich in und mit Gruppen wohlfühlen. Ich lasse mich dann von Stimmen und Stimmungen anstecken und mitreißen. Genieße es zuzuhören und zu erzählen, zu blödeln und zu schauen. "Weil Schönes schöner wird, wenn man es teilt", schrieb ich hier unlängst.

Aber in manchen Momenten funktioniert Alleinsein, das Solo, dann doch besser. Nicht sportlich – aber psychisch und emotional: zweieinhalb Stunden. Zweieinhalb Stunden, ohne dass jemand mir eines der Triggerworte der letzten Tage zuwerfen können würde. Zweieinhalb Stunden Luft. Frische Luft – in jeder erdenklichen Lesart.

Foto: Tom Rottenberg

Natürlich funktioniert und tickt da jeder und jede anders. Und natürlich könnten Sie jetzt auch sagen, dass das eskapistisch ist. Meinetwegen auch Selbstbetrug.

Aber: Na und?

Ich wollte mich ja sogar betrügen. Mich aus der Wirklichkeit weglügen. Mir vorgaukeln, dass in einer Welt mit sonnig-kaltem, für mich also perfektem Laufwetter alles fein ist.

Ich war nicht allein. Auf der gelben Brücke lief mir eine Bekannte über den Weg. "Geht's gut?" – "Kann es das?" Sie biss sich auf die Unterlippe. "Heute besser allein?" – "Ja. Du doch auch, oder?"

Aber der Blick den Fluss hinunter, hinunter auf die Stadt, war ein Traum. "What a wonderful world this could be."

Foto: Tom Rottenberg

Trotzdem funktioniert das mit der Ablenkung. Sukzessive und in kleinen Schritten. Angeblich ja eh auch durch die Bewegung. Wenn der Fokus sich auf das richtet, was fröhlich macht, was so gar nichts mit dem "großen Ganzen" zu tun hat, kommt irgendwann der Augenblick, in dem der Kopf wieder beginnt, die kleinen Details und Absurditäten am Streckenrand und auf der Strecke wahrzunehmen – und zu einem freundlichen Puzzle zusammenzusetzen.

Weil ja auch all das Teil der Wirklichkeit ist.

Foto: Tom Rottenberg

Der kleine Holzkohlengriller, den zwei Youngster bei der Brigittenauer Bucht nicht und nicht in Gang bekommen, ebenso. Der muslimische Mann, der seinen Gebetsteppich beim Schulschiff am Ufer ausrollt und einen Passanten fragt, ob Mekka eh genau in der von ihm angenommenen Richtung liegt.

Der immer noch unter der Tangentenbrücke in seinem Fahrradanhänger lebende ungarische Fundamentalchrist mit seinen Bibel-Graffitis.

Die Zirkusmusik und der Geruch nach Sägemehl, der vom Louis-Knie-Winterquartier herüberwabert – und mich wie immer rätseln lässt, wie Zirkusse heute überleben.

Foto: Tom Rottenberg

Es ist Kopfkinonormalität. Laufbilder und Impressionen fernab der relevanten Echtwelt. So als wäre nichts: einfach nur ein wunderschöner, sonnig-kalter Sonntagnachmittag im Februar.

"Dann müsste ich nicht mehr schrei'n – alles wär so klar."

Foto: Tom Rottenberg

Lustig und besonders wird es dann aber trotzdem noch. Am Ring. Dort demonstrieren die Schwurbler. So, als sähe die Welt noch immer aus wie in den Wochen zuvor. Ein paar blau-gelbe Fahnen schwenken sie – aber der Versuch, das Thema zu kapern, geht nicht auf.

Ich sehe, wie zwei Läuferinnen vor mir und etliche Passanten demonstrativ und trotz großen Abstands zur Demo ihre Masken aufsetzen.

Einfach nur, um falsche Zuordnungen zu vermeiden.

Foto: Tom Rottenberg

Trotzdem ist es super, dass die Schwurbler heute hier marschieren: Vor ihnen ist der Ring nämlich frei. Also autolos.

Ein kurzer fragender Blick zu einem der Motorradcops. Ein Zwinkern. Und ein "Thumbs up" vom Polizisten: Dass er hinter seiner Maske genauso grinst wie ich gerade, ist eher eine Vermutung – aber eine Motorradeskorte hat man dann als Läufer doch nicht alle Tage.

Foto: Tom Rottenberg

… und der Ring als privater Laufboulevard kann auch was.

Egal wie infantil solcherlei auch sein mag: Es tut niemandem weh. Und manchmal ist so ein Triumph der sinnlosen Freude genau das, was der Kopf braucht. Auch wenn der Moment, in dem das Lachen aus dem Herzen kommt, tatsächlich nur ein sehr kurzer Moment ist: Er zählt.

Foto: Tom Rottenberg

Natürlich haben diese zweieinhalb Stunden nichts am Wahnsinn geändert. Sie haben nichts dazu beigetragen, das, was passiert, auch nur verstehen oder begreifen zu können. Ohnmacht, Angst und Sprachlosigkeit sind nach wie vor da, genauso erdrückend, genauso lähmend wie zuvor.

Sie haben niemandem geholfen. Niemandem – außer mir.

Denn es waren zweieinhalb Stunden Frieden. Zweieinhalb Stunden, in denen die Tränen tatsächlich nur vom Wind, der Sonne und der kalten Luft kamen. Zweieinhalb Stunden am "Tag des Eisbären".

Und Eisbären müssen nie weinen. (Tom Rottenberg, 1.3.2022)


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Foto: Tom Rottenberg