Beim Angriff auf Charkiw sollen Streubomben zum Einsatz gekommen sein.

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Seit dem ersten Tag des russischen Einmarschs in die Ukraine tauchen die Bilder von Raketentrümmern in den sozialen Medien auf: nahe Krankenhäusern, öffentlichen Parks oder in bewohnten Nachbarschaften. Und die Hinweise verdichten sich: Russland setzt offenbar gefährliche Streumunition gegen die Bevölkerung der Ukraine ein. Die Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch (HRW) und Amnesty International, sowie Rechercheplattformen wie Bellingcat konnten die Fotos und Videos zum Teil verifizieren.

Zuletzt soll die gefürchtete Munition bei Angriffen auf Charkiw zum Einsatz gekommen sein, der zweitgrößten ukrainischen Stadt. Am 24. Februar sollen laut HRW-Recherchen durch Streubomben vier Zivilisten in einem Krankenhaus in Wuhledar gestorben sein, einer Stadt im damals ukrainisch-kontrollierten Teil von Donezk.

Splittergefechtsköpfe

"Die russischen Streitkräfte sollen aufhören, Streubomben zu verwenden", sagt Waffenexperte Steve Goose von Human Rights Watch in einem Statement: "Und die ungesetzlichen Angriffe mit Waffen beenden, die wahllos töten und verstümmeln."

In der Ukraine kommen offenbar 9M79-Raketen zum Einsatz, die mit einem Splittergefechtskopf bestückt sind. Die Streumunition explodiert normalerweise in der Luft und lässt dutzende oder hunderte "Bomblets" über einem Gebiet abregnen, das in etwa so groß wie ein Fußballfeld ist. Im Fall der untersuchten Fragmente in der Ukraine handelt es sich um einen Gefechtskopf, der laut russischem Hersteller mit 50 Stück 9N24-Streumunition bestückt ist. Jedes dieser Bomblets entspricht 1,45 Kilogramm Sprengstoff und zersplittert in 316 Teile.

Blindgänger als Gefahr

Mehr als 120 Staaten haben sich unter der Oslo-Konvention aus dem Jahr 2008 dazu verpflichtet, keine Streumunition zu nutzen, produzieren, weiterzugeben oder auch nur zu lagern. In Österreich ist ein entsprechendes Gesetz im August 2010 in Kraft getreten. Die großen Militärmächte USA, China, Israel oder Russland sind der Konvention nicht beigetreten. Auch die Ukraine nicht, die zwischen Juli 2014 und Februar 2015 Streubomben in den prorussischen Separatistengebieten im Osten des Landes eingesetzt haben soll, wie HRW und die OSZE berichteten.

Das Gefährliche an Streumunition ist zum einen, dass das Bombardement ein weites Gebiet betrifft, und zum anderen, dass nicht alle Bomblets in der Luft detonieren. Laut Untersuchungen bleiben bis zu 30 Prozent des Inhalts eines Gefechtskopfs als Blindgänger auf dem Boden. Gleich einer Landmine geht von ihnen eine jahrelange Gefahr für Zivilisten aus.

Zerstörerischer Flammenwerfer

Doch nicht nur Streubomben versetzen die ukrainische Bevölkerung in Angst, sondern auch der Einsatz eines Flammenwerfers des Typs TOS-1 Buratino. Die mobile Raketenartillerie wird auf einem Panzer montiert und feuert Raketen mit "thermobarischen" Sprengköpfen ab. Das Wort setzt sich aus den griechischen Worten für Hitze und Druck zusammen und macht in der Praxis genau das: Es kombiniert Druckwellen und erzeugte Vakua, um eine extrem heiße Explosion herbeizuführen.

In einem Bericht der Seite "The National Interest" aus dem Jahr 2015 wurde der TOS-1 porträtiert, weil die russische Armee mehrere dieser Flammenwerfer nach Syrien schickte. Darin wird beschrieben, dass die Waffe ein Gebiet von 200 Meter mal 400 Meter mit einer einzelnen Salve zerstören kann – also mehrere Häuserblöcke gleichzeitig. Der Buratino wurde während des Kriegs der Sowjetunion in Afghanistan entwickelt und kam unter anderem im Tschetschenienkrieg zum Einsatz. Mit dem Flammenwerfer wurde die Hauptstadt Grosny quasi dem Erdboden gleichgemacht.

Ermittlungen in Den Haag

Unterdessen hat sich der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag (ICC), Karim A. A. Khan, entschieden, Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen einzuleiten. "So schnell wie möglich" sollen diese beginnen, sagt Khan in einem Statement, das auf der Webseite des ICC veröffentlicht wurde.

Zwar könne die Ukraine nicht selbst die Sache an das Büro des Chefanklägers weiterleiten, weil sie kein Vertragsstaat des Gerichtshofs sei. Doch habe die Ukraine mehrmals angegeben, Ermittlungen im Zusammenhang mit möglichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf seinem Territorium zu akzeptieren, sagt Khan. Russland erkennt das ICC nicht an. (Bianca Blei, 1.3.2022)