"Wieso ist die Weltbank a Judenbank?", fragt Elizabeth T. Spira in der Folge "Im Espresso" (2001) ihrer ORF-Reportagereihe "Alltagsgeschichte". Der aufgebrachte grauhaarige Mann an der Theke, der das zuvor behauptet hat, antwortet: "Ich weiß es nicht […] gonz Österreich sogt des. I sogs net […] und jeder, wos drüber redt, is a Nazi! Jo, san de deppert wurn?"

Der dahinterliegende Gedanke "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen" ist ein Evergreen, wenn es darum geht, Äußerungen zu rechtfertigen, die sich im Dunstkreis von Rassismus, Sexismus, Antisemitismus oder Verschwörungstheorien bewegen. Kein Blatt vor den Mund nahmen sich in dieser Hinsicht viele Protagonistinnen und Protagonisten der 60-teiligen Fernsehserie "Alltagsgeschichte", die zwischen 1985 und 2006 ausgestrahlt wurde. Fast immer wurde Brisantes verhandelt, Persönliches wie Politisches, an alltäglichen Schauplätzen wie am Würstelstand, auf der Donauinsel, am Brunnenmarkt, beim Heurigen, im Schrebergarten. Es wurde geschimpft, gezetert, verurteilt und gelästert.

Die ORF-Serie "Alltagsgeschichte" (1985 bis 2006) gab Leuten eine Stimme, die sonst nicht gehört wurden. Im Bild: der 59-jährige Kanalräumer Werner in der Folge "In der Großfeldsiedlung".
ORF / Peter Kasperak

Doch inwiefern haben sich die Grenzen des Sagbaren über die Jahre verschoben? Und in welchem Zusammenhang steht das mit den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, etwa dem Aufstieg des Rechtspopulismus in Österreich? Christian Oggolder und Christina Krakovsky arbeiten am Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Universität Klagenfurt. Sie haben sich durch die Serie gewühlt, um Hinweise zu finden. Dabei wählten sie einen Querschnitt von 20 Folgen, die sie einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen.

Lockerer Zugang zu Gewalt

"Mich hat überrascht, was alles sagbar war – gerade wenn es um Gewalt an Frauen ging. Wie bis in die 1990er-Jahre ganz locker über Übergriffe gesprochen wird", berichtet Krakovsky. In dem durch die Stadt Wien geförderten Forschungsprojekt hat sie sich auf die Analyse von Genderfragen konzentriert.

In der Folge "Spiel nicht mit den Gassenkindern: Kindheit in der Kaiserstadt" von 1985 etwa erzählt ein älterer Mann, wie sein Vater die Mutter aus Eifersucht immer in eine kleine Kammer sperrte, wenn er wegging, wie eine lustige Anekdote. In einer anderen Episode schildert ein Mann unverblümt, dass er seine Ex-Frau geschlagen hat, gibt Krakovsky ein weiteres Beispiel. "Er fügt hinzu, dass das gerichtlich nicht relevant gewesen sei. Dadurch war die Tat für ihn legitimiert."

In einer anderen Szene zeigt ein älterer Herr zumindest ein wenig Schuldbewusstsein, wenn er sich nach der Aussage, dass alle Frauen sowieso mit 60 Jahren nach St. Marx gehen sollten – also auf den Friedhof gehörten –, sofort dafür entschuldigt. "Daran sieht man, dass das angeblich Nichtsagbare, Verpönte, ja durchaus gesagt wird und dadurch präsent ist", erläutert Krakovsky. "Die Normen, worüber man moralisch, aber auch rechtlich gesehen reden darf, verändern sich aber im Lauf der Zeit."

Veränderungen lassen sich an der Serie auch ablesen, wenn es darum geht, dass Frauen immer öfter den klassischen Rollenbildern den Rücken kehren. "Mit der Zeit hat eine stärkere Vielfalt an weiblichen Lebensentwürfen Platz", sagt Krakovsky. "Zur Erzählung von Frauen in den konventionellen Rollen kommen Frauen, die arbeiten, Singles sind. Präsentiert werden auch queere Lebensentwürfe." Bei den Rollenzuschreibungen ändert sich der Kommunikationswissenschafterin zufolge allerdings wenig: Ältere Frauen werden auch 2002 noch als "alte Hexn" bezeichnet.

Antisemitischer Exzess am Stammtisch

Wenn es um die Grenzen des Sagbaren geht, kommt man um eine "Alltagsgeschichte-Folge" nicht herum: "Am Stammtisch – Ein Heimatfilm", gedreht 1988. In den Wirtshäusern machte sich vor der Kamera ein "antisemitischer Exzess" Luft, wie es Christian Oggolder beschreibt. Kurt Waldheim, der trotz der Affäre um seine verheimlichte SA-Mitgliedschaft Bundespräsident wurde, wird von Stammtisch-Kriegsveteranen verteidigt. Es wird außerdem heftig gegen Ausländer gehetzt. Der ORF legte die Folge, die Spira fast den Job kostete, auf Eis. Erst 2016 wurde sie im Fernsehen ausgestrahlt.

"Die Waldheim-Affäre 1986 und die Rede von Bundeskanzler Franz Vranitzky 1993 in Israel, wo er erstmals offiziell die Mitschuld Österreichs an den NS-Verbrechen einräumte, bewirkten einen Wandel in der öffentlichen Diskussion über die Zeit des Nationalsozialismus", sagt Oggolder. Er legt in dem Forschungsprojekt den Fokus auf die politisch-historischen Umstände der TV-Serie. Es sei zu beobachten, dass klar antisemitische Äußerungen immer weniger offen zutage traten und zunehmend fremdenfeindlichen Aussagen wichen.

"Mit dem Aufstieg der Haider-FPÖ ab 1986 wurde die unterschwellig antisemitische Stimmung aufgegriffen und kanalisiert, das lässt sich gut im Verlauf der Serie verfolgen", sagt Oggolder. Der SPÖ sei es nicht gelungen, mit ihrer Wählerschaft in einen sinnvollen Diskurs über Migrationsfragen zu treten. Folglich fühlten sich die Menschen im Gemeindebau oder auf der Donauinsel – ohnehin sozial benachteiligt – nur von der FPÖ ernst genommen und ließen sich bereitwillig auf die Sündenbockpolitik der Rechten ein, so Oggolder.

"Es gab schon Veränderungen seit den 1980ern, wo antisemitische Äußerungen einfach weggefegt werden konnten, und heute, wo das ohne Konsequenzen kaum mehr möglich ist", sagt Oggolder. "Unabhängig davon ist Judenfeindlichkeit leider weiterhin ein Thema, wird aber nun vermehrt über entsprechende Codes kommuniziert wie beispielsweise durch die Erwähnung von George Soros oder der Ostküste." Die Debatte über das Sagbare setzt sich, auch unter Vorzeichen wie Cancel-Culture, bis heute fort. Damals wie heute müsse mit diesen Menschen diskutiert werden, damit sie nicht in die Fänge von Rechtspopulisten geraten.

Sozialporno oder Sozialreportage

Abgesehen von der politischen Brisanz wurden Spiras "Alltagsgeschichte"-Serie wie auch das 1997 gestartete Partnersuchformat "Liebesg’schichten und Heiratssachen" immer wieder als geschmacklos kritisiert, der vor zwei Jahre verstorbenen TV-Legende "Sozialpornografie" vorgeworfen. Dem kann das Forschungsteam nichts abgewinnen. "Wir sehen die Filme als Sozialreportagen", sagt Christina Krakovsky. "Es geht darum, Leuten eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden, und gleichzeitig Probleme aufzuzeigen." Spira habe eben auch in als anstößig wahrgenommene Ecken geschaut, Problemfelder wie Armut, Sexarbeit und Alkoholkonsum abgebildet.

Weil es um reale Probleme aus dem Alltag gehe, sei ein solches Format heute gar nicht mehr denkbar, meint Oggolder: "Reality-TV und Dokusoaps sind heute so abgehoben und konstruiert, dass sie eben keine Alltagsgeschichten sind. Reale Probleme werden in Formaten wie Talkrunden abgehandelt, aber nicht im Unterhaltungsfernsehen."

Dass es Spira um eine Dokumentation der sozialen Verhältnisse ging, zeige beispielsweise die Folge "Frauen in der Fabrik" (1995): Frauen, die die Handarbeit leisten und denen trotz Fachausbildung ein Aufstieg verwehrt bleibt, werden der männlichen Chefetage gegenübergestellt, die davon überzeugt ist, dass Frauen natürlicherweise zu einfachen Aufgaben neigen.

"Es gelingt Spira oft, die Zuschreibungen an Bevölkerungsgruppen wie etwa Frauen aufzunehmen, dann aber zu kontrastieren, indem die Gruppe selbst zu Wort kommt", sagt Krakovsky. "Dadurch entsteht eine vielfältige Gesamtkomposition, die uns viel erzählen kann, zumindest über einen bestimmten Teil der Gesellschaft." (Karin Krichmayr, 2.3.2022)