Es ist tatsächlich eine Zeitenwende. Doch einfach nur Geld auf die Bundeswehr zu werfen reicht nicht, sagen Paula Köhler und Claudia Major von Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin im Gastkommentar.

Deutschland steckt künftig mehr Geld in seinen Wehretat. Ressortverantwortliche ist Christine Lambrecht (SPD).
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Letzten Sonntag fand im Bundestag nichts Geringeres als eine kleine Revolution statt. Sie kam in Form einer Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz daher, der ruhig und bestimmt in seiner Rede geradezu handstreichartig alte Gewissheiten der deutschen Sicherheitspolitik über den Haufen warf. Deutschland müsse wieder mehr für seine Verteidigung tun, hieß es. Der Kanzler kündigte ein Sondervermögen über 100 Milliarden Euro an, um große, strategische Projekte langfristig gesicherter finanzieren zu können. Auch der Verteidigungshaushalt, lange Deutschlands Achillesferse in puncto Glaubwürdigkeit in der Nato, solle ab diesem Jahr auf mehr als zwei Prozent steigen. Alles Streitpunkte, an denen man sich jahrelang die Zähne ausgebissen hat – er hat sie abgeräumt.

Weckruf 2014

Denn Deutschland empfindet den Krieg in Europa, die russische Invasion in der Ukraine, als eine Zeitenwende. Das Ende einer friedlichen Ära, die mit der Wiedervereinigung und dem Fall der Sowjetunion begonnen hat und von der Deutschland wie kaum ein anderes europäisches Land profitiert hat. Was jetzt kommt, wird deutlich schwieriger. Dabei gab es Warnungen.

Der letzte Weckruf für Deutschland und seine Partner kam 2014, doch er war nicht laut genug: Nach den Euromaidan-Protesten in der Ukraine besetzten russische Spezialtruppen ohne Hoheitsabzeichen – oftmals als "kleine grüne Männchen" bezeichnet – den Donbass im Osten der Ukraine. Seitdem beschloss die Allianz eine Refokussierung auf Bündnisverteidigung, baute schnelle Einsatztruppen auf, passte ihre Nuklearpolitik an und verbesserte ihre militärischen Fähigkeiten. Auch der Zustand der Bundeswehr hat sich seitdem sukzessive verbessert: Der Haushalt stieg wieder, die Bundeswehr richtete sich erneut auf Landes- und Bündnisverteidigung aus.

Verweigerte Hilfe

In Deutschland jedoch bleibt diese Logik von Verteidigung und Abschreckung unbeliebt. Zuletzt erlebte das die Ukraine: Waffenlieferungen, die dem Land zur Verteidigung gedient hätten, wurden im Diskurs oft als Provokation und Aufrüstung gesehen. Dass Waffen aber die Kosten-Nutzen-Kalkulation von Angreifern wie Wladimir Putin verändern und am Ende möglicherweise zur Wahrung des Friedens, auf jeden Fall aber zur Verteidigung der ukrainischen Demokratie beigetragen hätten, wird oft nicht gesehen, bis es zu spät ist. Dass man das Unterlassen von Hilfe auch als verweigerte Hilfe zur Selbsthilfe interpretieren könnte – geschenkt.

"Die Optionen, die wir der Politik anbieten können, sind extrem limitiert."
Alfons Mais, deutscher Heeresinspekteur

Noch viel schwerwiegender ist allerdings, dass Deutschland erst jetzt bewusst wird, wie wenig substanzielle militärische Ausrüstung es hat, die es der Ukraine oder – noch viel schlimmer – der Nato bereitstellen könnte. Denn lange Jahre der Friedensdividende, der Sparpolitik und der Misswirtschaft haben tiefe Lücken in die Bundeswehr gerissen. So schrieb der Inspekteur des Deutschen Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, am 24. 2. 2022 auf Linkedin: "Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da. (...) Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können, sind extrem limitiert."

Lange mangelte es an Geld. Doch selbst nach der Ankündigung von Sonntag gilt: Einfach nur Geld auf die Bundeswehr zu werfen löst die aktuellen Probleme nur bedingt. Zu ineffizient ist das deutsche Beschaffungssystem, zu groß die Lücken. Der aktuellste Bericht der Wehrbeauftragten bringt es auf den Punkt: Es gibt "zu wenig Material, zu wenig Personal, zu viel Bürokratie".

"Sicherheit entsteht aus der Kombination von Abschreckung und Dialog."

Bis vor einigen Tagen schien dieser Umstand für die deutsche Politik kaum erwähnenswert. Doch da Russland seine Grenzen durch Militärgewalt näher an die Nato heranschiebt und aggressiv versucht, die Sicherheitsordnung in Europa nach seinen Vorstellungen zu verändern, müssen sich Deutschland und seine Partner auf ein konfrontativeres Verhältnis einstellen – und dementsprechend handeln.

Was muss dafür nun passieren? Sicherheit entsteht aus der Kombination von Abschreckung und Dialog. An Bereitschaft zum Dialog mangelte es Deutschland nicht. Nachholbedarf besteht allerdings im Bereich Verteidigung. Hier sind nun drei Aspekte gefragt: Erstens sollten Deutschland, seine europäischen Partner und die Nato nicht weniger anstreben als eine komplette Neuaufstellung im militärischen, wirtschaftlichen und politischen Bereich – kurzum eine Gesamtstrategie entwickeln. Die neue nationale Sicherheitsstrategie, die die deutsche Bundesregierung in diesem Jahr erarbeiten will, kann der Anfang dafür sein.

Mehr Effizienz

Zweitens sind neben erhöhten Ausgaben für Verteidigung vor allem Instrumente wichtig, die schnell, aber langfristig die Effizienz der Bundeswehr steigern. Das am Sonntag verkündete Sondervermögen ist ein wichtiger Schritt, um die Planungssicherheit zu erhöhen. Eine Reform des Beschaffungswesens wäre nun folgerichtig.

Drittens sollte das große Interesse für Sicherheits- und Außenpolitik, das hunderttausende Demonstrierende am Sonntag in Deutschland bewiesen haben, genutzt werden, um eine ehrliche Diskussion über deutsche und europäische Sicherheitsinteressen und strategische Ziele zu führen. Und darüber, dass man Werte manchmal mit Waffen verteidigen kann, ja sogar muss. (Paula Köhler, Claudia Major, 2.3.2022)