Wer wissen will, wie Kiew nach einem wirklichen Angriff der russischen Armee aussehen würde, soll "Foto Grosny 1994" googeln. Damals, im ersten Tschetschenienkrieg, war Wladimir Putin noch nicht auf der Szene, aber die russische Armee ging so vor, wie es heute droht: Wenn Infanterie in einer Großstadt nicht weiterkommt, schießt man eben alles zusammen.

Man muss wohl versuchen, sich in den Kopf von Putin hineinzudenken, um irgendwie einschätzen zu können, wie das ausgehen kann. So viel sei gleich gesagt: Sehr hoffnungsfroh stimmt das nicht.

Russland hat die Aussicht, völlig isoliert zu leben, mit Wladimir Putin als Filialleiter Chinas.
Foto: AFP/JADE GAO

Reihenweise geben jetzt erfahrene Beobachter zu, dass sie sich geirrt haben. Sie hielten Putin für einen eiskalten Schachspieler, nicht für den ressentimentgeladenen Revanchisten, als der er sich zuletzt bei mehreren verstörenden TV-Auftritten präsentierte. Darin mäandert er zwischen dem heiligen Wladimir, jenem Großfürsten, unter dem vor 1000 Jahren die Kiewer Rus christianisiert wurde, und Wladimir Iljitsch Lenin, der die Ukraine nach der Revolution überhaupt erst gegründet habe. Stalin kommt auch vor, allerdings ohne die von ihm ausgelöste künstliche Hungersnot mit drei bis vier Millionen Toten ("Holodomor") zwecks Unterwerfung der Ukraine. Eine Geschichtsfantasie, die beweisen soll, dass Russen und Ukrainer ein Volk sind, es eine Ukraine als Staat nicht geben kann und dass es in Wirklichkeit um die Größe der "russischen Welt" geht.

Eine falsche Behauptung nach der anderen: Die Ukraine baue an Massenvernichtungswaffen, ihr Eintritt in die Nato sei bereits beschlossen, im Donbass sei ein "Genozid" an Russen geplant. Dann folgt die klassische Opfer-Täter-Umkehr: "Wir haben keine Wahl, wir müssen auf diese reale Gefahr reagieren (...). Die USA und die Nato haben jede Zurückhaltung abgelegt und sind dazu übergegangen, sich das Territorium der Ukraine als potenziellen Kriegsschauplatz anzueignen." Paranoia – gespielt oder echt?

Öffentlicher Ausbruch

Am 24. Februar folgte dann der letzte öffentliche Ausbruch. Putin kündigte den Einmarsch in der Ukraine an, wieder in einer Tirade, die zugleich westliche Dekadenz (Schwulenehe) und westliche Aggressivität (Nato-Erweiterung) behauptet. Und immer wieder das kulturelle Thema: Der Westen ("Imperium der Lüge") zwinge Russland fremde Werte auf, die zu "Niedergang und Aussterben führen". Tatsächlich ist die Bevölkerung Russlands rückläufig, aber eher wegen der elenden Gesundheitsversorgung.

Diese Mischung aus beleidigter Opferhaltung und offen angekündigter Aggressivität erinnert manche an die Jahre, als Hitler zuerst Österreich, dann der Tschechoslowakei seinen Willen aufzwang. Der Unterschied ist, dass die Ukrainer Widerstand leisten und "der Westen" massiv dagegenhält. Was Putin wiederum mit der Atomdrohung beantwortete.

Die Hoffnung ist, dass Putin noch einen Rest von Rationalität besitzt und es nicht aufs Äußerste ankommen lässt. Aber das ist nicht sicher. So und so ist die Ukraine für ihn verloren – das Land lässt sich kaum längerfristig im Griff behalten. Und Russland hat die Aussicht, völlig isoliert zu leben, mit Putin als Filialleiter Chinas. Bleibt die Frage, ob sich in Russland Kräfte finden, die diesen Marsch in die Sackgasse nicht mitmachen wollen. (Hans Rauscher, 2.3.2022)