US-Präsident Joe Biden hielt in der Nacht auf Mittwoch seine Rede an die Nation.

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Der Gang des US Präsidenten in den Kongress vor seiner jährlichen Ansprache zur Lage der Nation hat stets etwas von dem Weg eines Preisboxers zum Ring vor einem großen Kampf. Der Präsident läuft durch ein dichtes Spalier von Abgeordneten, Bundesrichtern, Armeeoberen und geladenen Gästen. Er schüttelt Hände, klopft Schultern und putscht sich für seinen großen Auftritt auf.

An diesem Abend seiner ersten "State of the Union" wirkte Joe Biden dabei wie Vitali Klitschko, früher Boxweltmeister, heute Kiews Bürgermeister, zu seinen besten Zeiten. Selbstbewusst, siegesgewiss, vor Kraft strotzend. Und das, obwohl die Zustimmungsrate des Präsidenten im ersten Jahr seiner Amtszeit um 13 Prozentpunkte abgerutscht war.

Wichtiger Moment

Die Inflation, der vermurkste Abzug aus Afghanistan, die schleppende Umsetzung seiner ambitionierten Pläne zur Verbesserung der Infrastruktur und zum Klimaschutz hatten ihn in den vergangenen Monaten massiv an Wählergunst gekostet. Doch an diesem sechsten Tag der russischen Invasion in die Ukraine war das alles vergessen.

Für Joe Biden gibt es nur noch ein Thema, das zählt. "Dieser Moment wird seine Präsidentschaft definieren", sagte Susan Glasser, die als Korrespondentin der "Washington Post" in Moskau gearbeitet hatte, bevor sie für den "New Yorker" eine Kolumne aus Washington zu schreiben begann.

Und tatsächlich kann Biden, so scheint es, diesen Moment politisch für sich nutzen. So erntete er minutenlangen stehenden Applaus von beiden Seiten des Ganges, als er mit Pathos verkündete, er sei der festen Überzeugung, dass auch in diesem Konflikt die Demokratie über die Tyrannei siegen werde.

Geeintes Kapitol, geeintes Volk

Es war nicht das letzte Mal an diesem Abend, dass im sonst so zerstrittenen US-Kapitol überparteilich Einigkeit herrschte. Die wiederholten Solidaritätsbekundungen Bidens mit der Ukraine wurden bejubelt, ebenso wie seine martialischen Versicherungen, Putin gegenüber Härte zu zeigen: "Wenn Diktatoren keinen Preis für ihre Aggression bezahlen, dann halten sie nicht inne", rief er in die aufgepeitschte Menge.

Tatsächlich schien Biden in diesem Moment zum ersten Mal in seiner Präsidentschaft beide Parteien und beinahe das gesamte amerikanische Volk hinter sich zu haben. Die Kritiken, dass seine Sanktionen gegen Russland zu spät kommen und zu milde sind, sind weitestgehend verstummt. Und Donald Trumps bizarre Äußerungen, Putin sei mit der Invasion ein Geniestreich gelungen, stoßen selbst bei den gewählten Vertretern seiner eigenen Partei auf Befremden. Lediglich Trumps hartnäckigste Anhänger können das noch nachvollziehen.

Amerika scheint sich, wie oft in solchen Krisensituationen, hinter seinem Präsidenten einzureihen. Der Applaus für Biden von den Rängen spiegelte durchaus das Empfinden der Bevölkerung wider. Man erkennt in den USA an, dass Biden es mit unermüdlicher Diplomatie geschafft hat, den Westen so zu einen, wie er in dieser Lage das eigene Land geeint hat. Und man gesteht ihm zu, dass er und sein engster Kreis außen- und sicherheitspolitischer Berater den richtigen Ton und das richtige Maß gefunden haben.

Keine US-Truppen in die Ukraine, aber harte Gegenwehr

Das gilt auch für Bidens Entscheidung, eine direkte militärische Konfrontation mit Russland so lange zu vermeiden, wie es nur irgendwie geht. So wiederholte er am Dienstag, dass er bei aller Sympathie für das ukrainische Volk unter keinen Umständen Truppen in die Ukraine schicken werde. Eine Botschaft, die bei einer amerikanischen Bevölkerung, die von Abenteuern in fernen Ländern über die Parteigrenzen hinweg die Nase voll hat, bestens ankam. Sollte Russland allerdings auch nur einen Fuß auf das Gebiet eines Nato-Landes setzen, bekräftigte Biden, würden die USA um "jeden Zentimeter" kämpfen.

Biden traf bei seiner Rede, wie schon in den vergangenen Wochen, eine gute Balance zwischen Härte und Besonnenheit. Er wiederholte sein Mantra, mit dem er sich bereits im Wahlkampf profiliert hatte, dass der Kampf zwischen Demokratien und Autokratien der bestimmende Konflikt unseres Zeitalters sei. Ein Mantra, das sich nun nur allzu drastisch bewahrheitet. Und er vermittelte seinen Zuhörern in den USA und in der Welt die Zuversicht, dass die Demokratie und die freien Gesellschaften gewinnen werden. "Es wird alles gut", flüsterte er mit seiner typisch gewordenen Onkelstimme ins Mikrofon.

First Lady Jill Biden (rechts) lud die ukrainische Botschafterin Oksana Markarowa (links) als Ehrengast ein.
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Ganz am Ende seiner Rede, nachdem er auf dieser Welle der Einigkeit zum wiederholten Mal versucht hatte, dem widerborstigen Kongress seine Liste an Gesetzesinitiativen anzudienen, steigerte sich Biden dann noch einmal in ein pathetisches Crescendo, mit dem er den globalen Siegeszug der amerikanischen Demokratie herbeizubeschwören versuchte. "Dies ist der Moment, der unseren Charakter formt und unsere Zukunft bestimmt", rief er mit sich überschlagender Stimme in den Raum. "Wir werden diese Prüfung bestehen. Wir werden die Freiheit beschützen und die Demokratie retten."

DER STANDARD

Das tat verängstigten Zuhörern in den USA und rund um die Welt sicher gut. Doch so einig und bestimmt dieser Augenblick auch scheinen mochte: Die Frage, ob die USA überhaupt über die Mittel verfügen, einem zum Äußersten entschlossenen Putin Einhalt zu gebieten, blieb. Die neueste Ankündigung, das in den USA angelegte Vermögen russischer Oligarchen anzugehen und den US-Luftraum für russische Flüge zu sperren, klang zwar nach einem weiteren harten Schritt. Die Konvois, die nach Kiew unterwegs sind, haben alle diese Maßnahmen bislang jedoch noch nicht stoppen können. (Sebastian Moll aus New York, 2.3.2022)