Wladimir Putin nimmt sich verschiedene Elemente aus verschiedenen Epochen für die historische Begründung seiner Ansprüche.

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Wolfgang Mueller ist Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören sowjetische Geschichte, Kalter Krieg, Außenpolitik, Diplomatiegeschichte, Wahrnehmungsgeschichte, Geschichte des politischen Denkens in Russland.

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Wolfgang Mueller, Historiker am Institut für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien, hat sich mit der politischen Logik und dem Geschichtsbild beschäftigt, das den russischen Präsidenten Wladimir Putin antreibt. Wie alle Expertinnen und Experten zeigt aber auch er sich überrascht, wie skrupellos Putin nun seine Planspiele in die Realität umwandelt und den Angriff auf die Ukraine mit erfundenen Argumenten legitimiert – wie dem, dass die Ukraine von Nazis befreit werden müsse.

Mueller erläutert im Interview, worauf sich diese Argumente beziehen, und legt dar, dass es bereits seit dem neunten Jahrhundert eine Staatlichkeit auf dem Boden der heutigen Ukraine gegeben hat.

Der Versuch, Russland nicht zu provozieren, sei jedenfalls nach hinten losgegangen. Das weitere Verhalten Putins werde von erzielten Zugeständnissen, vom wirtschaftlichen Druck und von der militärischen Gegenwehr abhängen, auf die er in und über der Ukraine stößt.

STANDARD: Wie schockierend finden Sie die aktuellen Entwicklungen?

Mueller: Die aktuellen Entwicklungen sind überaus schockierend, es ist ein nicht provozierter Angriffskrieg eines europäischen Staates gegen einen anderen. Es gibt Angriffe auf Wohnviertel, hunderte Todesopfer in den Streitkräften, der Zivilbevölkerung und selbst unter den Kindern. Präsident Putin droht mit Atomwaffen.

STANDARD: Es wird immer wieder mit dem Motiv erklärt, dass sich Putin an ein russisches Imperium klammern will, dass er Russland zu alter Größe zurückführen will.

Mueller: Ein Angriffskrieg ist völkerrechtlich nicht zu rechtfertigen. Der Präsident Russlands hat ihn vor allem mit zwei Zielen argumentiert, einerseits die aktuelle, demokratisch gewählte Führung der Ukraine zu ändern und andererseits das Land völlig zu entwaffnen. Er begründet das beispielsweise damit, dass die demokratisch gewählte Führung der Ukraine eine neonazistische sei und einen Genozid durchführe. Beides entspricht nicht der Realität.

STANDARD: Wie kommt er auf dieses Neonazi-Argument? Wie wir wissen, stammt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj aus einer jüdischen Familie. Welche russische Sichtweise steckt da dahinter?

Mueller: Das geht auf die Zeit vor und in dem Zweiten Weltkrieg zurück, als ein Teil der Unabhängigkeitsbewegung in der Ukraine dem Faschismus nahegestanden ist. Einige haben damals gehofft, dass die deutsche Wehrmacht zur Wiederherstellung einer unabhängigen Ukraine beitragen würde. Das gilt allerdings nicht für die gesamte Partisanenbewegung. Die zweite Wurzel ist, dass die sowjetische Propaganda politische Gegner oft als faschistisch diffamiert hat – auch wenn sie rechts- oder linksgemäßigt gewesen sind. Unter Stalin wurde in den 1920er-Jahren die Sozialdemokratie als "linker Flügel des Faschismus" verunglimpft. Diese beiden Motive sind dann im Zusammenhang mit der Orangen Revolution und der Euromaidan-Revolution in der russländischen politischen Kommunikation aufgegriffen worden. Bei den Protesten gab es rechtsextreme Gruppen, und mancherorts ist die Verehrung von Stepan Bandera verbreitet. Bei Parlamentswahlen in der Ukraine sind Rechtsextreme aber stets bedeutungslos geblieben. Die heutige Regierung der Ukraine ist demokratisch und proeuropäisch gesinnt.

STANDARD: Putin argumentiert ja, die Russen und die Ukrainer seien historisch gesehen ein gemeinsames Volk, die moderne Ukraine sei von Russland erschaffen worden, hat eigentlich kein Eigenständigkeitsrecht. Was steckt da historisch dahinter?

Mueller: Diese Sichtweise geht auf das 19. Jahrhundert zurück, als die heutige Ukraine zwischen Russland und der Habsburgermonarchie aufgeteilt war und die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung innerhalb Russlands unterdrückt wurde. Damals ist in Russland die These formuliert worden, dass die Ukraine nie ein Land war und auch keines sein dürfe. Faktum ist aber, dass es bereits seit dem neunten Jahrhundert eine Staatlichkeit auf dem Boden der heutigen Ukraine und auch des heutigen Russlands gab, das "Reich von Kiew" oder die "Kiewer Rus". Russen und Ukrainer haben somit gemeinsame historische Wurzeln. Auf dem Boden der Ukraine war nach dem Untergang der Kiewer Rus dann keine einheitliche staatliche Tradition mehr vorhanden und das Territorium unter verschiedenen Mächten und Entwicklungen aufgeteilt. Im Osten und Süden waren es lange Zeit mongolisch-tatarische staatliche Formationen, im Westen Polen und Litauen.

In diesem Spannungsfeld begann eine eigene Identität zu entstehen, die sogenannten Kosaken. Darauf bezieht sich die Staatlichkeit der Ukraine zum Teil. Einen Staat mit dem Namen Ukraine gibt es schließlich nach dem Ersten Weltkrieg, damals gab es sogar zwei, eine westukrainische und eine ukrainische Volksrepublik. Der größere Teil ist von der Roten Armee erobert worden. In der Sowjetunion wurde die ukrainische Identität abwechselnd gefördert und unterdrückt. Das betrifft auch den Holodomor, die absichtliche Aushungerung von Millionen Menschen. Die 1991 wieder unabhängig gewordene Ukraine ist völkerrechtlich anerkannt und Uno-Mitglied. Sie hat sich seit 2000 prowestlich und demokratisch deutlich anders entwickelt als Russland. 85 Prozent der Bevölkerung bekennen sich zu ihrem Staat, egal ob sie russische Muttersprache haben, ob sie auch der ethnisch russischen Bevölkerungsgruppe angehören – das ist nicht identisch – oder ob sie Ukrainisch sprechen und der ukrainischen Volksgruppe angehören. Zweisprachigkeit ist sehr weit verbreitet, auch Präsident Selenskyj spricht fließend beide Sprachen.

STANDARD: Putin stückelt sich eigentlich aus der Geschichte seine Argumentation zusammen?

Mueller: Ein Charakteristikum, das immer wieder mit der Politik von Präsident Putin in Zusammenhang gebracht wird, ist der Begriff "Hybrid". Und das sehen wir in Politik, Kriegsführung und Geschichtsbild, das verschiedene Elemente aus verschiedenen Epochen herausnimmt. Obwohl Präsident Putin die Politik der Sowjetunion in bestimmten Bereichen kritisch beurteilt, hat er sich in vielerlei Hinsicht sowjetischer Methoden bedient. Beispielsweise dass eben im Donbass eine abhängige Regierung geschaffen worden ist. Das hat die Sowjetunion mit dem Export des Kommunismus auch gemacht. Sie hat kommunistische Kräfte ins Ausland exportiert und sich dann mit ihnen verbündet.

STANDARD: Auf Basis dieser Logik, wie weit könnte Putin tatsächlich gehen?

Mueller: Sein deklariertes Ziel ist die Abspaltung des Donbass, die Anerkennung der Krim-Annexion, eine Änderung der Regierung in der Ukraine und ihre völlige Entwaffnung. Das wäre eine massive Schwächung einer selbstbestimmten und souveränen Ukraine. Putins Drohungen mit einem Nuklearkrieg kann man schwer einschätzen. Sie sollen den Westen lähmen.

STANDARD: Joe Biden warnt vor Putins Imperialismus und sagt, dass sich Putin nicht mit der Ukraine zufriedengeben würde. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass er tatsächlich ein Nato-Land angreifen würde?

Mueller: Das halte ich für wenig wahrscheinlich, aber es gibt auch dazwischen noch Belarus.

STANDARD: Hat de facto Lukaschenko nicht schon sein Land an Putin abgetreten?

Mueller: De facto ja. Durch die Verwicklung in den aktuellen Krieg hat sich Belarus noch viel stärker an Russland gebunden. Auch durch die Zusagen von Lukaschenko, gegebenenfalls als nuklearer Stützpunkt für entsprechende Raketen Russlands zu dienen. Diese Entwicklung von Belarus ist seit den Unruhen im Gefolge der gefälschten Präsidentschaftswahl von 2020 absehbar.

STANDARD: Wenn jetzt Nato-Länder – Deutschland zum Beispiel, die USA – ihre hochpotenten Waffen an die Ukraine liefern, kann das Putin als Argumentation nehmen, dass er indirekt von der Nato angegriffen wird?

Mueller: Es hat sich gezeigt, dass die westlichen Staaten lange gezögert haben, die Ukraine entsprechend zu unterstützen. Heute sehen wir, dass dieser Versuch, Russland nicht zu provozieren, nach hinten losgegangen ist. Der Aggressor ist heute eindeutig, egal wer was wohin liefert.

STANDARD: Was würden Sie dem Westen als Strategie empfehlen, und welches Szenario könnten Sie sich vorstellen, in dem Putin sich auch wieder zurückziehen könnte?

Mueller: Es ist das Interesse der westlichen Staaten, diesen Krieg rasch zu beenden. Ob das gelingen kann, ist nicht absehbar. Putin fordert von der Ukraine Gebiete und Entwaffnung. Die Ukraine fordert ein Ende des Krieges und vom Westen die Errichtung einer Flugverbotszone und die Anerkennung als EU-Kandidat. Das Erste könnte die Bombardierungen beenden, allerdings droht Putin mit Atomwaffen. Das Zweite könnte helfen, auf den Nato-Beitritt zu verzichten. Das Verhalten Putins wird von erzielten Zugeständnissen, vom wirtschaftlichen Druck und von der militärischen Gegenwehr abhängen, auf die er in und über der Ukraine stößt.

STANDARD: Was würde Putin reichen, um es in Russland als Erfolg zu verkaufen?

Mueller: Wir kennen seine Gedanken nicht. Die Antwort hängt aber auch damit zusammen, wie die Bevölkerung Russlands informiert ist. Derzeit wird ihr suggeriert, dass es sich beim Angriffskrieg um eine begrenzte "Sonderoperation" zur Unterstützung des Donbass handelt. Die Worte Invasion, Aggression oder Krieg dürfen in russischen Medien nicht verwendet werden. Das könnte es vielleicht sogar erleichtern, ein Resultat zu verkaufen, das unterhalb der eigenen Maximalforderungen liegt. Allerdings gibt es dafür noch keinerlei Anzeichen. (Manuela Honsig-Erlenburg, 2.3.2022)