Geschichte unter dem Druck von Putins Neo-Imperialismus: Ukrainische Zivilisten beim Befüllen leerer Flaschen mit Styropor – hergestellt werden Molotowcocktails.

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Spektakulärer und zugleich niederschmetternder hätte das Ende vom Ende gar nicht ausfallen können. 30 Jahre geschichtsphilosophischer Verlegenheit wurden vom Präsidenten des Russischen Föderation unmissverständlich widerlegt. Schlagartig, mit Beginn des 24. Februars, hat Putins flächendeckender Angriff auf die Ukraine einen abrupten Neuanfang bewirkt. Dabei war das viel beschworene "Ende der Geschichte" anfangs nicht mehr als ein Kollateraleffekt.

Der schmähliche Kollaps der Sowjetunion, der Auseinanderfall ihrer Einflusszone, verhalf Denkern wie dem Amerikaner Francis Fukuyama vor genau drei Dekaden zur strahlenden Genugtuung. Der Geschichte schien nach dem weltweiten "Sieg" des Kapitalismus ihr letztes Stündlein geschlagen. Für die Überwinder der Nachkriegsordnung stand fest: Das ursprünglich vom Philosophen Hegel entworfene Entwicklungsprinzip hatte sich erfüllt. Der Gipfel der Vernunft war unwiderruflich erklommen. Der messianische Marxismus hingegen schien reif für die Reststoffsammlung.

Natürlich lief "Geschichte" als Ereignisgeschichte munter weiter. Gerade der Krieg gegen den Terror seit 2001, gefasst als globale Polizeiaktion, bestätigte schlimmste Befürchtungen angesichts chaotischer Weltverhältnisse. Grundsätzlich aber stand Geschichte von nun an im Bann von "Normalität": der eines wachsenden Wohlstands für alle. Ein solches Maß der Stetigkeit bedurfte keiner zusätzlichen regulativen Ideen. Vollends Machtpolitik, die Austragung von Konflikten mit Waffengewalt, war zum Anachronismus geworden: Zeitvertreib für die nostalgischen Vertreter steinzeitlicher Mammutjagd.

Weltgeist an der Börse

Die Bedingungen des "neuen" Stillstands schienen Aushandlungssache. Wer es besser wusste, beteiligte sich lieber gleich selbst an der Wertschöpfung. Oder, wie Rudolf Burger einmal festhielt: "Der Weltgeist, selbst Produkt der Spekulation, investiert nicht mehr in Politbüros, sondern an Effektenbörsen, dem letzten Ort der Spekulation."

Doch mit dem Vertrauen auf Social Media allein ist dieser Tage nicht nur in den Straßen von Kiew und Charkiw kein Staat zu machen. Noch vor kurzem hatten Sozialwissenschafter aller Couleurs die Vorzüge "immaterieller Arbeit" beschworen. Im Fokus stand das Schicksal der neuen Mittelschichten. Die Sorge galt der "Singularisierung" von Individuen. Wie sehen meine neuen Sneaker aus? Wie viel unsichtbare Wissensarbeit ist in ihr Design eingeflossen? Wie kann ich kulturelle Güter unaufhörlich neu "valorisieren"?

Mit dem Heranrollen der russischen Panzer haben sich die Verhältnisse schlagartig neu verfestigt, eher noch: verdinglicht. Das Ende vom Ende der Geschichte verhilft jetzt gerade der mörderischen Vulgärform des Imperialismus zu einem nicht mehr für möglich gehaltenen Comeback. Junge Menschen, bis eben mit der Ergründung ihrer selbst befasst, füllen, Sirenenlärm und Granateneinschläge im Ohr, Flüssigbrennstoff in Glasflaschen und hängen Stofffetzen dran.

Tapfere Gelassenheit

Die Tapferkeit und traurige Gelassenheit der ukrainischen Menschen sind beispielgebend. Um "Lesarten" der Geschichte aber, um die Bloßlegung ihres vor uns verborgenen Sinns, muss sich zum jetzigen Zeitpunkt niemand bekümmern. In der Ukraine nicht, auf absehbare Zeit vielleicht keine Europäerin, kein Europäer. Wladimir Putins krude Negation der ukrainischen Staatswerdung – die eine uralte Geschichte ist – hat jedes Vertrauen in die "Posthistoire" pulverisiert. Die plötzlich über Europa und den Rest der Welt verhängte "Freisetzung" von Geschichte erborgt sich von dieser ausgerechnet ihre hässlichsten Züge: ihre Gewalttätigkeit.

Fortan ist es mit der Auslegung von Texten nicht mehr getan. Die Tatsachen sind handfest, das Leid vor unserer Haustür ist massenhaft und real. Der Neohistorismus unserer Tage besteht nur noch aus den Fake News, die der Kreml verbreiten lässt. Das Ende vom Ende der Geschichte wird hingegen der Anfang eines neuen Polit-Realismus sein müssen. Er wird von Patriotismus handeln, von nicht-chauvinistischen Formen des Stolzes und der Widersetzlichkeit. (Ronald Pohl, 3.3.2022)