Tatsachen, die sich rekonstruieren lassen, wie etwa das Treffen von Franz Werfel, Alban Berg, Alma Mahler und Werfels Schwester, Hannah Fuchs-Robettin, deren Liebhaber Berg wurde, fusionierte Guy Scarpetta in seinem Roman Die Lyrische Suite mit Fakten der Geschichte und der fiktiven Geschichte einer jüdischen Musikerdynastie. Basierend auf Marcel Fausts Erinnerungen (Leiter des Refugees’ Committee aus New York) wirft der 1946 geborene, mit dem Prix Louis-Barthou prämierte Autor einen emotional erschütternden Blick auf das Wien der vertriebenen jüdischen Komponisten vor 1945 bis in die Phase des Kalten Krieges.

Guy Scarpetta, "Die Lyrische Suite". Übersetzt von Erika Sieder. € 34,– / 464 Seiten. Verlag Bibliothek der Provinz, 2022.

Scarpetta vermischt in seinem analog zum gleichnamigen Musikstück komponierten Werk die Genese der Lyrischen Suite mit den Verwerfungen der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert. In sprachlicher Brillanz gerät das gesamte Leben in Wien, New York, Zürich, Paris in den Sog einer dilettierend in den Untergang mäandernden Epoche. Der schmerzliche Verlust des Gros der Intelligenzija, unter dem Österreich durch das verbrecherische Nazi-Regime lange litt, wird luzide. Inklusive Verdrängung und halbherziger Entnazifizierung.

Es war 1977, als durch die Entdeckung der Partitur der Lyrischen Suite aus dem Nachlass von Hannah Fuchs das Werk in neuem Licht erschien; chiffriert und mythisch verbunden mit einer geheimen Liaison. Darüber hinaus besticht der Roman durch präzise historische Details, persönliche Beschreibungen über pathologische Mauern des Schweigens. "... war dahintergekommen, dass Mutter erniedrigt, ohne Zweifel beschimpft worden war, in einem der Geschäfte, wo sie einkaufen ging. Man hatte sie wohl offen als dreckige Jüdin beschimpft oder vielleicht sogar noch schlimmer, noch unwürdiger in diesem Hass. Seit diesem Tag sprach sie zu niemandem mehr." Kulturpublizistin Erika Sieder ist zu danken, dass dies Opus magnum nun auch auf Deutsch vorliegt. Vor dem kulturhistorischen Hintergrund barocker Kirchen und Schlösser seziert Scarpetta exemplarisch das Leben eines Verfolgten. (Gregor Auenhammer, 2.3.2022)