Als Joe Biden am Dienstagabend Ortszeit seine rhetorisch überraschend starke Rede zur Lage der Nation vor dem versammelten Kongress beendet hatte, erhoben sich alle Anwesenden im Saal. Standing Ovations von beiden Seiten. Von Republikanern und Demokraten. Vereint. In den USA. So etwas hat es schon lange nicht mehr gegeben, und so etwas wird vermutlich auch so schnell nicht wieder geschehen.

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Joe Biden hielt am Dienstag eine starke Rede zur Lage der Nation.
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An diesem kurzen "Rally ’round the flag"-Moment zeigt sich eindrücklich, dass eine externe Bedrohung auch erbitterte politische Feinde plötzlich zusammenrücken lässt. Freilich ist der Krieg, der sich aktuell in Europa abspielt und der im Zentrum von Bidens Rede stand, derzeit keine direkte militärische Bedrohung für die USA, auch wenn höhere Inflation und Energiepreise dort ebenfalls Spuren hinterlassen werden. Den Politikerinnen und Politikern im Kongress ist aber auch bewusst, dass sie Zeugen einer massiven Bedrohung der Sicherheitsarchitektur der Nachkriegszeit sind.

Manche werden sich an den Kalten Krieg erinnert fühlen, manche mit offenen oder unterdrückten Ängsten aus Trump-Zeiten konfrontiert. Manche Republikanerinnen und Republikaner dürften insgeheim froh sein, dass eben nicht Donald Trump hier vor ihnen steht und einmal mehr die "Genialität" Wladimir Putins lobt, sondern der geopolitisch erfahrene Biden. Biden spielt mit diesen Ängsten, stellt immer wieder Querverweise zur angeschlagenen US-Demokratie her. Das ist die Botschaft nach innen: Lasst es euch eine Warnung sein.

Nach außen versichert er der europäischen Gemeinschaft seine Solidarität gegen den "Diktator" Putin. Auch was die militärischen Optionen betrifft, bleibt Biden klar: "Wir sind hier, um unsere Nato-Verbündeten zu verteidigen, falls Putin entscheidet, Richtung Westen zu ziehen." Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das mag den ukrainischen Präsidenten Wolodomyr Selenskyj enttäuschen.

Nichtsdestotrotz hat Joe Biden – anders als beim Afghanistan-Debakel – in der aktuellen Krise bisher vorbildlich agiert. Das offensive Teilen von Geheimdienstinformationen vor der Offensive hat wohl Putins Pläne durchkreuzt, mit geringem militärischem Aufwand die Ukraine in kürzester Zeit zur Kapitulation zu zwingen. Auf Bidens Konto geht auch die Organisation eines breiten und umfassenden internationalen Sanktionsbündnisses, das seinesgleichen sucht. Die USA sind endlich wieder aktiver Gestalter und Kooperationspartner. (Manuela Honsig-Erlenburg, 2.3.2022)