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Vergangenen Oktober wurde 80 Jahre nach dem Massaker an jüdischen Bewohnern Abramovićs Installation "Crystal Wall of Crying" in der Ukraine eingeweiht.

Foto: REUTERS / GLEB GARANICH

"Die Kriege sind unterschiedlich, aber die Ergebnisse sind die gleichen", mahnte Marina Abramović in der Nacht auf Mittwoch in einem auf Facebook veröffentlichten Statement ein. Bereits vergangene Woche hatte die Performancekünstlerin jugoslawischer Herkunft ihre Solidarität mit der Bevölkerung der Ukraine bekundet. Der aktuelle Anlass: der Angriff auf den Fernsehturm von Kiew am Dienstag, bei dem auch die unmittelbar nebenan situierte Babyn-Jar-Holocaust-Gedenkstätte Schaden nahm. In welchem Ausmaß, ist derzeit unklar. Ebenso, ob davon Abramovićs Installation "Crystal Wall of Crying" betroffen ist, die dort im vergangenen Oktober 80 Jahre nach dem Massaker an jüdischen Bewohnern eingeweiht worden war.

Die Nachrichtenlage verheißt für die Hauptstadt der Ukraine und deren Bewohner nichts Gutes. Bedroht sind davon auch tausende Kultureinrichtungen und unzählige Museen samt international bedeutender Sammlungen vor Ort. Etwa das Nationale Kunstmuseum der Ukraine mit Beständen, die vom Mittelalter bis zur Gegenwart datieren. Es befindet sich in Reichweite des Regierungsviertels, also in der Nähe des Präsidentenpalastes, des Parlaments und der ukrainischen Exekutive. Ein bevorzugtes Angriffsziel, wie schon während der Maidan-Revolution 2014, rief Konstantin Akinsha Mitte Februar in einem Artikel für das "Wall Street Journal" in Erinnerung.

Vergebliche Appelle

Der aus Kiew gebürtige Kunsthistoriker, Journalist und Kurator versuchte mit seinem Bericht präventiv internationale Aufmerksamkeit für ukrainische Museen und deren potenzielle Notlage zu generieren. Mehr oder weniger vergeblich. Obwohl sich die Gerüchte über eine Invasion verdichtet hatten, waren selbst die wertvollsten Objekte nicht aus der Hauptstadt abtransportiert worden.

Dabei hatte das zuständige Ministerium für Kultur und Informationspolitik laut Akinsha kurz zuvor Leitlinien für den möglichen Schutz und die Evakuierung der Museumssammlungen im Kriegsfall herausgegeben. Die Gefahr für das kulturelle Erbe des Landes wurde jedoch kein öffentlich diskutiertes Thema. Präsident Wolodymyr Selenskyj war bekanntlich daran gelegen, jedwede Panik zu vermeiden.

Identitätsstiftende Volkskunst

Als die Angriffe begonnen haben, war es für eine sichere Verlagerung der Werke in Depots zu spät. Sowohl staatliche als auch kleine private Einrichtungen behelfen sich seither provisorisch. Teils wurden Bestände schnellstmöglich in Kellern versteckt, teils in Privattransporten in Sicherheit gebracht. Darunter waren vermutlich auch Leihgaben europäischer Institutionen.

Es geht nicht nur um wertvolle Werke nationaler Herkunft, sondern auch um solche international anerkannter Meister wie Goya, Rubens, Aiwasowski, Repin oder Kandinsky. Bis hin zu identitätsstiftender Volkskunst wie jener von Maria Primachenko. Als Vertreterin der naiven Kunst spielte die Ukrainerin eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Kunsthandwerks ihrer Heimat. Bei der Bombardierung des Regionalmuseums in Iwankiw, rund 80 Kilometer nordwestlich von Kiew, wurden am Montag 25 ihrer Gemälde zerstört, wie das International Council of Museums (ICOM) bestätigte.

Nacktes Überleben

Die internationale Organisation forderte dieser Tage ebenso wie die Unesco die Einhaltung der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut ein. Das internationale Abkommen war 1954 eigens aufgrund der Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs verabschiedet worden. Es sieht nicht nur die Respektierung des eigenen, sondern im Konfliktfall explizit auch jene des fremden Kulturguts vor. Allerdings werden sich Aggressoren, die selbst das Völkerrecht ignorieren, wenig um Vereinbarungen zum Erhalt von Kulturgut kümmern. Eher ist vom Gegenteil auszugehen.

Angesichts der Entwicklungen in den vergangenen Tagen befürchtet Akinsha auch im Hinblick auf die Zerstörung historischer Bausubstanz und wichtiger Architekturmonumente nicht weniger als "die größte kulturelle Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg". Gemessen an der Eskalation an der humanitären Front, verliert kulturelles Erbe schnell an Relevanz. Denn auch für deren lokale Hüterinnen und Hüter geht es derzeit um das nackte Überleben. (Olga Kronsteiner, 2.3.2022)