Viele Menschen haben Kiew schon verlassen. Wer nicht flüchten kann, sucht etwa Schutz in einer U-Bahn-Station.

Foto: AFP / Aris Messinis

In Kiew wissen die Menschen schon längst, was so gut wie alle Militärfachleute in Interviews, Analysen und Lagebeurteilungen von sich geben: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die russischen Truppen versuchen werden, gewaltsam die totale Kontrolle über die ukrainische Hauptstadt an sich zu reißen. Nicht anders stellt sich die Lage in Metropolen wie etwa Charkiw dar.

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Die Evakuierungszüge sind zum Bersten voll, viele müssen auf den nächsten Zug hoffen.
Foto: REUTERS/Umit Bektas

Immer mehr Menschen ergreifen die Flucht gen Westen – etwa über die Landesgrenzen oder ins Landesinnere. Videos aus dem Kiewer Zentrum zeigen, wie Menschen mit Koffern zum Bahnhof eilen. Doch die Evakuierungszüge sind zum Bersten voll, viele müssen auf den nächsten Zug hoffen. Tränen fließen, es herrschen Fassungslosigkeit und Erschöpfung.

Wie viele der drei Millionen Kiewerinnen und Kiewer die Stadt verlassen haben, ist derzeit unklar, die Regierung um Wolodymyr Selenskyj signalisiert weiter: "Wir sind noch da, wir haben die Stadt nicht verlassen." So wie Pawel M., auch er ist noch in Kiew:

"Jeden Tag male ich mir alle Szenarien aus und frage mich: flüchten oder bleiben?"

Pawel steckt in einer besonders gefährlichen Zwickmühle: Der in Kiew lebende Unternehmer ist russischer Staatsbürger. Er fürchtet sich sowohl vor den Angriffen der russischen Armee als auch vor Repressalien durch ukrainische Nationalisten.

Immer wieder gab es in den vergangenen Tagen unbestätigte Berichte, wonach russische Saboteure ausfindig gemacht worden seien. Pawel hat große Angst, für einen russischen Spion gehalten zu werden. Die ersten zwei Nächte fand er mit seinen Angestellten Schutz in einem Keller, doch dann wurde er aufgrund seiner Staatsangehörigkeit aufgefordert, nicht mehr dorthin zurückzukehren.

Seither sei er allein, erzählt er dem STANDARD am Telefon. Drei Tage habe er sich im Büro verschanzt, doch da das Unternehmen im Firmenbuch als "russisch" angeführt sein könnte, versteckt er sich nun in seiner Wohnung:

"Bei Raketenalarm verstecke ich mich im Badezimmer, weit weg von den Fenstern. Abends wird im Dunkeln gegessen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen."

Nahrungskonserven hat Pawel bereits am ersten Tag der Invasion trotz langer Schlangen vor den Supermärkten besorgt. Die will er mitnehmen, sollte er doch noch die Flucht wagen. Vielleicht muss er sogar ein paar Tage im Wald ausharren, befürchtet Pawel. Eine unmittelbare Flucht hatte er – Stand Mittwoch – nicht vor: Auf dem Weg aus der Stadt gebe es zu viele Checkpoints, er habe zwar eine Aufenthaltsgenehmigung, aber nur den russischen Pass. Wer helfen könnte? Er weiß es nicht.

Pawels Überlebenskit für eine eventuelle Flucht.
Foto: Pawel

Sehr wohl geflüchtet ist Anton – und das bereits am ersten Tag nach Kriegsausbruch: Der 33-jährige Besitzer eines Cafés in Charkiw war an dem Morgen durch einen Angriff auf eine Militärbasis nahe der Stadtumfahrung aus dem Schlaf gerissen worden. Im Gegensatz zu seinem Schwager, zu Freunden und Mitarbeitern packte er innerhalb einer Stunde seine Sachen und ergriff mit seiner Mutter, seiner Lebensgefährtin und dem Hund die Flucht ins Landesinnere westlich von Kiew.

"Hier fühle ich mich verhältnismäßig sicher. Aber ich bin in großer Sorge um die Menschen in Charkiw."

Mit gebrochener Stimme erzählt er von täglichem Kontakt mit den Menschen in den Bunkern der Stadt. Auch wenn die Russen auf Verwaltungsgebäude zielen, würden dadurch Zivilisten massiv gefährdet. Seine Wut auf Russland sei immens, so Anton, der auf einer Warteliste für die Einberufung steht. In der Zwischenzeit kämpfe er seinen eigenen Informationskrieg: Anton habe mehrfach versucht, Bekannte in Russland zu erreichen, um ihnen von den Taten ihrer Armee zu berichten, doch vergeblich:

"Die denken wirklich, wir sind Nazis, die ihre eigene Bevölkerung bombardieren."

Ein Mittvierziger in Kiew bittet darum, dass nicht einmal sein Vorname genannt wird, er will auch nur per Messengerdienst kommunizieren, denn die Russen würden ganz gezielt auch Zivilisten verfolgen:

"Hier im Krieg ist es besser, nicht zu telefonieren, Telefongespräche mit Nummern im Ausland fallen auf."

Der Mann zeigt sich tief besorgt, aber auch zuversichtlich: Der Westen habe Wladimir Putin jahrzehntelang missverstanden oder ihn schlicht und ergreifend nicht ernst genommen. Der Fehler wurde nun erkannt, die Ukraine brauche die Hilfe des Westens:

"Meine Angst ist, dass die Ukraine nur das erste Kapitel sein wird. Aber wir werden gewinnen. Früher oder später."

(Flora Mory, Gianluca Wallisch, 3.3.2022)

Menschen, die in Kiew geblieben sind, fürchten Kälte und Lebensmittelknappheit.
DER STANDARD
Kirche St. Barbara ist eine der ersten Anlaufstellen für Ukrainer und Ukrainerinnen in Wien.
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