"Wir sind da", wiederholt der Mann immer wieder. Blutverschmiert, mit Schnittwunden an den Armen, aber glücklich sitzt er am Boden. Der junge Afrikaner ist einer von 491 Migranten, denen es am Mittwoch am helllichten Tag gelungen war, die Grenzanlagen zwischen Marokko und der spanischen Exklave Melilla zu überwinden. Zwei sechs Meter hohe Zäune und ein Gewirr aus Stahlseilen liegen hinter ihnen.

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Hunderte Menschen – vorwiegend junge Männer – schafften es am Mittwoch und Donnerstag, die Zaunanlagen zu überwinden, die Marokko von der spanischen Exklave Melilla trennt. Sie wurden vorerst in ein Auffanglanger gebracht.
Foto: AP Photo/Javier Bernardo

2.500 Menschen waren am Mittwochvormittag auf marokkanischer Seite auf den Zaun zugestürmt, die Grenzschützer waren völlig überfordert. Am Donnerstag wiederholten sich die Szenen: Um die 1.000 Migrantinnen und Migranten versuchten in den frühen Morgenstunden ihr Glück. 350 gelang der Sprung nach Europa.

Grenzschützer chancenlos

"Alles ist sehr schnell gegangen", sagte die spanische Regierungsgesandte Sabrina Moh über den ersten Sturm auf den Zaun am Mittwoch in einem Radiointerview. Die marokkanischen Grenzschützer seien dieses Mal regelrecht überwältigt worden. Nach Angaben der Delegation der spanischen Regierung in Melilla warfen die "Zaunstürmer" Steine und schwangen Stöcke, bevor sie den Zaun erreichten und zu klettern begannen.

Viele hatten Schrauben in die Schuhsohlen gedreht, um so den Zaun besser besteigen zu können. Viele hatten wochen- oder gar monatelang auf eine Gelegenheit gewartet. In den Wäldern und auf den Feldern rings um Melilla und die andere spanische Exklave Ceuta an der marokkanischen Küste leben tausende meist afrikanische Flüchtlinge.

Noch nie sei es so vielen Menschen auf einmal gelungen, die Grenze zu überwunden, erklärte die Regierungsdelegation. Der bisher größte Ansturm auf den Grenzzaun fand am 28. Mai 2018 statt. Damals versuchten es zwischen 1.000 und 2.000 Migranten. 470 gelang der Sprung auf spanisches Gebiet.

Dutzende Verletzte

Insgesamt sollen auf beiden Seiten um die 45 Menschen verletzt worden sein. In der marokkanischen Nachbarstadt Nador wurden – so die marokkanische Menschenrechtsvereinigung AMDH – weitere 31 Migranten im Krankenhaus behandelt: Sie schafften es nicht über den Zaun, drei von ihnen sollen schwer verletzt sein.

Diejenigen, die es dieses Mal geschafft haben, rannten in großen Gruppen zum Auffanglager (Ceti), das – anders als vor der Corona-Pandemie – so gut wie leer war. Allerdings veröffentlichte der spanische Sender TVE auch Aufnahmen, die zeigen, wie Migranten direkt am Zaun von Grenzschützern festgehalten und sofort wieder abgeschoben wurden. Diese Praxis gilt als illegal und wurde in der Vergangenheit immer wieder von Menschenrechtsorganisationen und anderen, auch europäischen, Institutionen angeprangert.

Polemik um "echte Flüchtlinge"

In der Sondersitzung des spanischen Parlaments zum Thema Ukraine nützte Santiago Abascal, Sprecher der rechtsradikalen Vox, der drittgrößten Fraktion in der Volksvertretung, die Gelegenheit, um die Menschen aus der Ukraine als "echte Kriegsflüchtlinge" zu bezeichnen. "Frauen, Kinder, Alte: Sie müssen in Europa aufgenommen werden", sagte er. "Jeder kann den Unterschied zwischen diesen Flüchtlingsströmen und der Invasion durch junge Männer im Wehrpflichtigenalter muslimischer Herkunft verstehen, die gegen die Grenzen Europas anlaufen – beim Versuch, Europa zu destabilisieren und zu kolonialisieren." Abascal verlangte den Einsatz der spanischen Armee und den Schutz der Nato für die Exklaven Ceuta und Melilla.

"Es ist traurig, dass Sie eine Krise von solchem Ausmaß und solchem Kaliber für Ihren fremdenfeindlichen Diskurs nutzen, in dem es Flüchtlinge erster und zweiter Klasse gibt", entgegnete der sozialistische Regierungschef Pedro Sánchez. (Reiner Wandler, 3.3.2022)