Das Entsetzen über Wladimir Putins Angriffskrieg ist groß. Nicht nur die Ukraine, sondern auch Europas Werte gilt es jetzt zu verteidigen. Jetzt erst?

Ganz zu schweigen davon, dass Putin schon andere Staaten im Visier hatte, konnte er demokratische Grundfesten seit Beginn seiner Herrschaft relativ ungestört torpedieren. Hat die Welt vergessen, wie Putin mit Künstlerinnen und Künstlern, mit Feministinnen, mit Homosexuellen und natürlich mit kritischen Intellektuellen und Oppositionellen umging?

Nadeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samutsewitsch und Maria Alechina (v.l.n.r.), Mitglieder der feministischen Punkrockband Pussy Riot, sitzen in einem Gerichtssaal in Moskau hinter Gittern (Foto vom 23.07.12).
Foto: imago stock&people

Wie ein Staat mit der kritischen Avantgarde und – nicht zuletzt – mit den Schwächsten der Gesellschaft umgeht, ist nicht nur ein wichtiger Gradmesser für eine Demokratie. Wer die Rechte der eigenen Bevölkerung ignoriert, wird kaum jene anderer Staaten würdigen. Man kann in sogenannte interne Angelegenheiten eines Staates nur begrenzt eingreifen, aber man darf nicht Geschäfte mit einem Autokraten machen und ihm den roten Teppich ausrollen, um Profite zu erzielen. Man darf auch nicht aus politischer Freundschaft ein Auge zudrücken.

Menschenrechte sichern auch den Frieden

Heute wird in der Ukraine um Europa gekämpft. Vor zehn Jahren, noch vor der Annexion der Krim, kämpften ein paar junge Frauen gegen Putin. Das Pussy-Riot-Bandmitglied Nadeschda Tolokonnikowa sagte 2013 vor Gericht in ihrem Schlussplädoyer: "Dies ist eine Verhandlung über das gesamte Staatssystem der Russischen Föderation, das zu seinem eigenen Unglück in seiner Grausamkeit gegen die Menschen, seiner Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Ehre und Würde, so gern das Schlimmste zitiert, was in der russischen Geschichte je geschehen ist."

Dass sich die Staatengemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg den Menschenrechten verpflichtete, war eine Reaktion auf den Nationalsozialismus. Dieser Auftrag, wenn man ihn ernst nimmt und weiterdenkt, ist kein hübsches Zierwerk. Menschenrechte sichern auch den Frieden. Darum müssen sie täglich neu erkämpft werden: bei jeder Künstlerin, die in einer Kirche auftritt und deshalb in ein Straflager gesperrt wird, bei jedem Oppositionellen, der vergiftet wird, und genauso bei jedem Fliehenden auf einem Schlauchboot im Mittelmeer, bei jedem Whistleblower, der zum Staatsfeind erklärt wird.

Erlauben wir uns eine Utopie: Die historische Geschlossenheit, mit der man nun Sanktionen beschließt, könnte Despoten künftig stoppen, bevor sie so weit kommen wie Putin. Denn sein Angriffskrieg begann nicht vergangene Woche. (Colette M. Schmidt, 4.3.2022)