Mit der Durchleuchtung der russischen Seele, soweit sie sich im gestählten Körper des einschlägigen Präsidenten dialektisch materialisiert, wären wir so ziemlich durch, bei der des österreichischen Nationalratspräsidenten wird es noch eine Weile dauern. Beide haben zuletzt versucht, die problematische Textsorte "Weltgeschichtliche Betrachtungen" mit ihrem eigenen Senf zu würzen.
Der Erfolg lässt mangels Überzeugungskraft zu wünschen übrig. Was vor allem daran liegt, dass die Glaubwürdigkeit solcher Betrachtungen stark von der Distanz abhängt, die man zur Weltgeschichte hat. Ist man selber mitten im Geschehen oder diktiert es gar, können Betrachtungen rasch in grobe Fehleinschätzungen ausarten, was wieder zu Selbstrechtfertigungen führt, deren dürftige Substanz leicht durchschaubar ist. Aber nicht unbedingt leicht zu verstehen. Kreml-Astrologen von einst waren Hellseher im Vergleich zu den Putin-Psychogrammierern von heute, denen ihr Objekt nach zwanzig Jahren der Bekanntschaft plötzlich zur Sphinx geworden ist. Was haben die westlichen Geheimdienste in letzter Zeit getan? Kann es sein, dass Wladimir Putin die Idee, die Ukraine heim ins russische Reich zu holen, erst vor ein paar Wochen gekommen ist, und dass das mit seinem "ungewöhnlich aufgedunsenem Gesicht" zusammenhängt, das man beobachtet haben will? Oder hat der Westen nicht doch einige Kleinigkeiten versäumt?
Große Verbrechen, und dieser Überfall auf die Ukraine ist eines, erfordern große Phrasen, auch in ihrer Bekämpfung. Putin hat seine mit dem Anspruch verschossen, die Ukrainer, die eigentlich Russen seien, aus nazistischer Unterdrückung befreien zu müssen. Das verfängt nicht einmal beim eigenen Volk, und die Methoden dazu tun es schon gar nicht.
Zeitenwende
Im Westen sind die Phrasen vom Beginn einer neuen Zeitrechnung oder gar einer Zeitenwende zu hören, die einem beunruhigten Publikum von einem Tag auf den anderen das Patentrezept einer allgemeinen Aufrüstung schmackhaft machen sollen. Wenn die Aktien der Rüstungsunternehmen steigen, kann dem Weltfrieden bekanntlich gar nichts mehr passieren. Ein Wendepunkt, an einem solchen steht die Welt gewiss. Eine Zeitenwende könnte nur eine Wende zurück in die Zeiten des Kalten Krieges unter verschärften Bedingungen sein. Grund genug, das nicht heraufzubeschwören. Putin kann ein Land überfallen, schlimm genug, aber klar ist: Die Welt wird nicht nach seiner Pfeife tanzen.
In Österreich setzt bei jeder Krise ein Reflex ein, den – um einmal an einen großen Russen zu erinnern – Iwan Petrowitsch Pawlow erforscht hat, und es wäre höchst ungewöhnlich gewesen, hätte er sich diesmal nicht eingestellt: Sollen wir weiterhin neutral bleiben oder uns endlich auch an kriegerischen Unternehmen beteiligen? Das erfolgt als Fleißaufgabe, niemand hat uns dazu aufgefordert, die Neutralität aufzugeben, es gibt dafür weder einen politischen noch einen ethischen Grund, aber historische Reflexe sind manchmal schwer zu kontrollieren. Wie das Beispiel Wolfgang Sobotka zeigt, der neulich befürchtete, er könnte mit seinem Rücktritt als Vorsitzender des U-Ausschusses einem auferstandenen Engelbert Dollfuß den Vorwand zu einer Auflösung des Parlaments liefern. Er rettete die österreichische Demokratie – und behielt den Vorsitz. Danke! (Günter Traxler, 3.3.2022)