"Die Situation erinnert mich an eine 'Black Mirror'-Folge, in der Menschen einprogrammiert wurde, dass sie normale Mitmenschen als Monster sehen – und diese dann umbringen. Das, was Russland gerade macht, wirkt genauso", sagt Dariia Kuzmych.

Foto: Dariia Kuzmych

Bis vor zwei Wochen hielt sich die Künstlerin Dariia Kuzmych selbst noch in Kiew auf und wäre sogar länger geblieben. Doch für ein Projekt von KÖR Niederösterreich (Kunst im öffentlichen Raum) in Traiskirchen reiste die in Berlin und Wien lebende Ukrainerin nach Österreich. Absurderweise würde die Aktion im Zusammenhang mit Geflüchteten stehen, erklärt Kuzmych im Gespräch. Sie wollte vor Ort recherchieren, dies müsse sie nun nicht mehr – die Gegenwart habe sie eingeholt. Kuzmych versucht, von außen zu helfen.

STANDARD: Vor einer Woche griff Russland die Ukraine an. Sie halten sich aktuell in Wien auf. Befindet sich Ihre Familie noch in der Ukraine?

Kuzmych: Meine ganze Familie ist in der Ukraine und plant auch nicht, von dort wegzufahren. Mein Vater ist schon in der Freiwilligenarmee, der Mann meiner Mutter auch. Mein Bruder bleibt noch bei seiner Familie, er geht nicht sofort. Man muss Kräfte schonen. Sehr wenige meiner Freunde und Bekannten sind geflohen.

STANDARD: Gab es die Möglichkeit zu flüchten, oder wollten sie dort bleiben?

Kuzmych: Fast alle meiner Bekannten wollen bleiben.

STANDARD: Die Situation verschärft sich von Tag zu Tag. Wie sieht die Situation in den Städten aus?

Kuzmych: In den ersten drei Tagen waren alle schockiert, dass es so schnell geht. Aber die Armee verteidigt die Städte gut, und deswegen ist die Hoffnung gestiegen. Aber einige meiner Bekannten wohnen an Orten, an denen stark gebombt wird und viele Kämpfe stattfinden. Das sind Wohnbezirke ohne strategische Objekte, zum Beispiel kleine Vorstädte oder Satellitenstädte von Kiew. Viele bleiben in sehr gefährlichen Bezirken.

STANDARD: Besteht die Hoffnung, dass die Orte gegen russische Angriffe verteidigt werden können?

Kuzmych: Dafür fehlt es an Hilfe des Westens. Es gibt genügend Soldaten, aber zu wenig Ausrüstung. Vor allem im Osten ist die Situation problematisch, dieser ist von humanitärer Hilfe abgeschnitten. Und die kann seitens der Ukraine nicht geleistet werden, weil das russische Truppen verhindern.

STANDARD: In nur einer Woche mussten laut Uno eine Million Menschen aus der Ukraine fliehen. Viele bleiben, um das Land zu verteidigen. Wie beurteilen Sie diese Situation von außen?

Kuzmych: Ich bin gut vernetzt und verfolge viel auf Social Media. Meine beste Freundin befindet sich aktuell mit ihren zwei kleinen Kindern und ihrem Mann im Zentrum Kiews. Viele ihrer Bekannten und Kolleginnen aus dem Ausland haben sie gefragt, warum sie das Land nicht verlässt. In ihrer Reaktion schrieb sie auf Facebook, dass es drei Optionen gäbe: Erstens: Sie bleiben in Kiew bis zum Sieg. Zweitens: Sie verlassen die Stadt als Flüchtlinge, wenn diese eingenommen wird. Oder drittens: Sie sterben im Jahr 2022 als zivile Bürger in einer europäischen Hauptstadt unter Bombenangriffen. In einer Welt, in der das möglich ist, würden sie aber ohnedies nicht leben wollen. Diese Aussage ist für mich sehr treffend. Die Situation erinnert mich an eine "Black Mirror"-Folge, in der Menschen einprogrammiert wurde, dass sie normale Mitmenschen als Monster sehen – und diese dann umbringen deswegen. Das, was Russland gerade macht, wirkt genauso.

STANDARD: Sie haben auf Social Media aufgerufen, Versorgungshilfe in die Stadt Boryspil etwa 20 Kilometer von Kiew zu schicken. Was brauchen die Menschen gerade am dringendsten?

Kuzmych: Meine Stiefmutter befindet sich aktuell dort und engagiert sich in einer Freiwilligengruppe. Sie hat mich gebeten zu helfen. Der Bürgermeister ist sehr aktiv und berichtet viel über die Situation. Es werden vor allem kugelsichere Westen, Handschuhe und Knieschützer gebraucht. Auch humanitäre Spenden, aber die Kampfausrüstung ist gerade vorrangig. Ich versuche zu vermitteln, damit diese Güter dorthin gelangen.

STANDARD: Gibt es noch Wege dafür?

Kuzmych: Theoretisch müsste die Hilfslieferung direkt dorthin fahren, aber das ist zu gefährlich. Viele versuchen Hilfsgüter an die Grenze zu bringen, damit diese dann in die Ukraine transportiert werden. Aber eigentlich müsste das eine neutrale Organisation wie die UN machen. Das fehlt seitens des Westens. Es ist notwendig, damit Menschen weiterhin in der Ukraine leben können – und gegen die russische Armee kämpfen.

STANDARD: Haben Sie selbst russische Bekannte oder Freunde?

Kuzmych: Ja, zwei Cousins in Russland, mit denen ich schon seit 2014 kaum Kontakt habe. Ich habe ihnen jetzt Screenshots und Fotos als Beweise geschickt, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Ihre zynische Antwort lautete "Alles Gute und Gesundheit". In Russland wird der Begriff "Krieg" nicht verwendet, sondern man spricht von einer "Befreiung der Nation". Viele Menschen aus der Mittelschicht wollen einfach nichts davon wissen. Es ist wie eine Krankheit, die das Gehirn manipuliert hat.

STANDARD: Liegt das an den Propagandamedien, die das falsch darstellen?

Kuzmych: Es ist nicht einfach nur falsch kommuniziert. Das ist eine große Strategie, die bereits im Kindesalter ansetzt. Mit struktureller Gehirnwäsche wird Menschen eingebläut, dass es da draußen nur Feinde gibt, gegen die man gemeinsam kämpfen muss. Und das passiert in Schulen, in den Medien und sogar in Trickfilmen.

STANDARD: Internationale Kultureinrichtungen starten Solidaritätsaktionen für die Ukraine. Russische Künstler und Künstlerinnen werden nun zunehmend ausgeladen. Was halten Sie von diesem Boykott?

Kuzmych: Das ist eine wirksame Möglichkeit. Einige russische Künstler – die im Westen tätig, eigentlich liberal und Putin-kritisch sind – klagen gerade nur über ihren eigenen Wohlstand, der in Gefahr ist. Ihnen geht es um sich selbst und ihr Wohlbefinden, während Menschen in der Ukraine getötet werden. Natürlich sind das nicht alle, aber einige denken so. Dieser Krieg ist wie eine gezielte Vernichtung der Menschen und Identität der Ukraine. Eigentlich hat er weniger mit einem kriegerischen Akt zu tun, als mit einem terroristischen. Er funktioniert mit Lügen und Manipulation. Ziel ist es, die Ukraine zu zerstören und zu okkupieren. Wenn ich dann von manchen Russen solche Klagen höre, ist das zum Kotzen!

STANDARD: Ein Gegenbeispiel liefert das Team des russischen Beitrags für die Venedig-Biennale, das seine Teilnahme aus Protest zurückgezogen hat. Die Zeit lasse keinen Platz für Kunst, hieß es in einem Statement. Finden Sie das die richtige Entscheidung?

Kuzmych: Das finde ich absolut richtig. Kultur und künstlerische Tätigkeit können immer für Propaganda ausgenutzt werden. Deswegen finde ich das richtig, wenn Künstler selbst offen sagen, dass sie sich zurückziehen und nicht mit diesen Institutionen zusammenarbeiten möchten. Es ist ihr gutes Recht, dieses Land aktuell nicht repräsentieren zu wollen.

STANDARD: Könnte man dort mit Kunst nicht auch ein Zeichen setzen?

Kuzmych: Der russische Pavillon hat schon eine koloniale Geschichte, er wurde durch die Initiative und die finanziellen Mittel der Kiewer Mäzene Bohdan und Varvara Khanenko erbaut. Jetzt könnte er als Plattform dienen, wo die vielschichtige und bereits verwurzelte Kolonialisierungsgeschichte der sogenannten russischen Kultur offenbart wird. Dabei geht es nicht nur um die Ukraine, sondern auch um viele andere Nationen.

STANDARD: Abseits der humanitären Katastrophe droht auch die Zerstörung von Kulturgütern des Landes. Beschäftigt Sie das, oder ist dies momentan zweitrangig?

Kuzmych: Die Gefahr ist sehr groß. Am Mittwoch wurde beispielsweise Charkiw bombardiert, eine Stadt mit sehr schöner Architektur. Und zu Beginn der Woche wurde das Regionalmuseum Iwankiw angegriffen, wo Werke der Künstlerin Marija Prymatschenko ausgestellt sind. Zum Glück konnten einige Arbeiten gerettet werden. Natürlich ist das Überleben gerade wichtig, aber Kulturerbe zu schützen, ist nicht zweitrangig. Da geht es um unsere Identität. (Katharina Rustler, 4.3.2022)