Über eine Million Menschen sind bereits aus der Ukraine geflohen. Viele von ihnen sind traumatisiert durch die Kriegsereignisse und das Verlassen der Heimat.

Foto: imago images/Antonio Balasco

Heute ist Vedran Kurtović klinischer Psychologe und Psychotherapeut in Wien. Doch vor Jahrzehnten musste er selbst hautnah erfahren, was es heißt, vor einem Krieg zu flüchten. Als Kind verließ er das bedrängte Sarajevo und seinen Vater, den er erst nach vier langen Jahren wiedersah. Dieser Einschnitt veranlasste ihn, sich mit dem Trauma des Krieges persönlich und professionell zu beschäftigen. In der aktuellen Situation rät er zur Psychohygiene.

STANDARD: Die Bilder aus der Ukraine wühlen mit ihrer Brutalität selbst jene auf, die mit Gewalt nie direkt konfrontiert wurden. Sie hingegen erfuhren den Krieg hautnah, wurden im Jugoslawien-Konflikt zum Flüchtling. Wie geht es Ihnen mit den aktuellen Geschehnissen?

Kurtović: Die damaligen Erlebnisse beeinflussen bis heute mein Fühlen, Denken und Erleben. Sie prägen jeden Tag meines Lebens, meine Gefühle zu mir selbst und zu meiner Familie. Ich bin dankbar, denn was ich erlebte und die Lehren, die ich daraus zog, haben die Person geformt, die ich heute froh bin zu sein. Und es hat zu meiner Berufswahl beigetragen. Das habe ich erst später verstanden, denn der Prozess, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, war keine unbewusste Gesundung, sondern harte Arbeit – auch mithilfe psychotherapeutischer Intervention.

Dennoch habe ich zunächst nicht gemerkt, wie mich die aktuellen Bilder aus der Ukraine anstrengen, sogar körperlich beschäftigen. Der erweiterte Konsum der teils grauenhaften Nachrichten führt zur erhöhten Wachsamkeit, gleichsam zu einer permanenten Alarmbereitschaft. Bewusst wurde mir das, als ich ein Posting in den sozialen Medien absetzte, das ausdrückt, wie ich heute als zweifacher Vater meinen eigenen verstehen kann, als er im Jugoslawienkrieg seine Familie aus Sarajevo verabschiedete, während sich feindliche Truppen näherten. Er sollte uns jahrelang nicht sehen. Damals wurde mir klar, wie dünn das zivilisatorische Eis ist.

STANDARD: Kann man nach solchen Ereignissen zu einem normalen Leben zurückkehren? Was sind die Anzeichen einer Traumatisierung?

Kurtović: Das geht, sofern man sich korrigierenden Erfahrungen aussetzt beziehungsweise diese sucht. Das ist nicht leicht, da sich vieles in der Psychologie unbewusst abspielt. Grundsätzlich sollte man sich selbst beobachten, etwa darauf achten, ob man Schlafstörungen hat oder sich zwischenmenschliche Probleme häufen. Das sind Warnzeichen, die man zunächst nicht mit den traumatischen Ereignissen assoziiert. Erlebte Traumata haben naturgemäß die Macht, unsere Beziehungen, unsere Fähigkeit zu vertrauen lebenslang zu beeinflussen. Vertrauen ist immer ein Risikoinvestment, selbst bei psychisch Unbeeinflussten. Aber wenn man Gewaltexzesse gesehen hat, was sich Menschen gegenseitig antun, da wird man mit Vertrauensvorschüssen geizig.

Vedran Kurtović musste als Kind aus Sarajevo flüchten. Heute ist er Psychotherapeut in Wien und erklärt, was es bedeutet, ein Kriegstrauma mit sich herumzutragen.
Foto: Matthäus Anton Schmidt

STANDARD: Was machen diese Bilder mit Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien? Wie hoch ist das Risiko einer Retraumatisierung?

Kurtović: Ich würde diese Gefahr nicht nur auf Leute vom Balkan beschränken. Wir hatten in Österreich in den vergangenen Jahrzehnten diverse Flüchtlingswellen und haben einige Bevölkerungsgruppen mit Retraumatisierungspotenzial. Viele Menschen mit Gewaltvergangenheit leben in einer Art betäubendem Vergessen, und die Gefahr, daraus herausgerissen zu werden, ist aufgrund der Nachrichtenflut aus der Ukraine erheblich. Verstärkt wird das Unbehagen dadurch, dass dieser Krieg geografisch nah ist und seine Schockwellen über die sozialen Medien in Echtzeit in die Wohnzimmer transportiert werden. Wie einschneidend diese Reize vulnerable Menschen triggern, ist individuell unterschiedlich. Aber unsere Gesellschaft muss mit der Pandemie ohnehin eine psychische Belastung bewältigen. Und schon kommt das nächste dicke Ding um die Ecke, das heißt, wir reden jetzt von kumulativen Traumen, die auf uns einprasseln.

STANDARD: Wie geht unsere Gesellschaft mit Trauma um? Haben wir genügend Expertise, um diesem Phänomen zu begegnen?

Kurtović: Die Corona-Pandemie hat hier Schwächen offenbart. Etwa dass wir in Österreich deutlich zu wenige Institutionen haben, die mit solchen Erkrankungen professionell umgehen. Dazu gesellt sich bei der psychischen Gesundheit eine strategische Planlosigkeit. Wir haben uns in der Vergangenheit zu oft auf vereinzelte Initiativen verlassen. Das Resultat sind alleingelassene Menschen, die ihre Traumata an nachfolgende Generationen weiterreichen. Doch gibt es verschiedene Traumatypen, und glücklicherweise entwickelt nicht jeder eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Darunter versteht man eine verzögerte psychische Reaktion auf ein extrem belastendes Erlebnis.

STANDARD: Die PTBS wird als gewaltige Bürde für ein normales Leben wahrgenommen. Kann man umgekehrt Stärke aus einer überwundenen PTBS schöpfen?

Kurtović: Unter Umständen. Es gibt einen geringen Prozentsatz Betroffener, die nach der Bewältigung einer PTBS – das bitte nicht mit Resilienz verwechseln – ein sogenanntes traumatisches Wachstum erfahren, also ihre psychischen Ressourcen erweitern. Hier kommen einige Faktoren ins Spiel, etwa die Persönlichkeitsstruktur, ausreichend soziale Unterstützung, die Anlage, von sich aus eine positive Emotionalität herzustellen, oder die Fähigkeit, dem Erlebten einen Sinn beizumessen. Wenn wir von unverarbeiteten Traumata sprechen, müssen wir bedenken, dass viele psychische Auffälligkeiten späte Folgestörungen sind und sich die PTBS lange dahinter verstecken kann. Dazu zählen diverse Süchte, Depressionen oder etwa Angststörungen. Um das traumatische Wachstum, also eine positive persönliche Entwicklung anzukurbeln, gibt es therapeutische Maßnahmen, wobei die diesbezügliche Forschung in den Kinderschuhen steckt. Das Motto "Was mich nicht umbringt, macht mich stärker" gilt daher nur bedingt.

STANDARD: Wie kann man mit Menschen aus der Ukraine umgehen, die traumatisiert zu uns kommen?

Kurtović: Hier bin ich pessimistisch, da die Rahmenbedingungen fehlen. Zunächst einmal muss ein Schutz vor weiteren Trauma-Einwirkungen aufgebaut werden, danach sollte eine psychodiagnostische Abklärung mit qualifiziertem Personal in einer respektvollen Umgebung stattfinden. Im Flüchtlingslager Traiskirchen erzielten die Betreiber Erfolge, indem sie auf Kommunaldolmetscher setzten. Ein Kardinalfehler ist, Verwandte, Freunde oder Menschen, die selbst betroffen waren, heranzuziehen, denn diese werden einem Retraumatisierungsrisiko ausgesetzt.

STANDARD: Wie können wir hierzulande mit unserer Wut und eigenen Ängsten umgehen? Haben Sie einen Tipp?

Kurtović: Wie leicht wäre das Leben, wenn man allgemeingültige Tricks und Tipps geben könnte. Das ist jedoch unseriös, weil sich diese Dinge auf einer individuellen Ebene abspielen und jeder von uns eine persönliche Bewältigungsstrategie entwickeln muss. Grundsätzlich können wir alle eine vorbeugende Stimuluskontrolle betreiben, was heißt, den Nachrichtenkonsum auf Notwendiges einzuschränken und nicht zu erlauben, dass die Grausamkeiten des Krieges ungefiltert auf uns einprasseln. Was uns in diesen Zeiten quält, egal ob Pandemie oder bewaffneter Konflikt, sind die Ohnmacht und die Wut, die aus dieser Hilflosigkeit resultieren. Hier gibt es individuelle Maßnahmen, sogenannte Coping-Strategien, die uns dabei unterstützen, das Erlebte zu verarbeiten. Dem einen hilft es, sich auf den eigenen Mikrokosmos zurückzubesinnen, also zwischenmenschliche Kontakte zu stärken. Andere suchen ihr Heil in Aktivität, engagieren sich beispielsweise als Helfer. Und manchmal hilft radikale Akzeptanz, was, zugegeben, schwierig ist, da wir schon in den vergangenen zwei Jahren eine hohe seelische Belastung auf uns genommen haben.

Da kommt noch einiges auf uns zu, da die Psyche den Ereignissen hinterherhinkt. Nach der viralen Seuche droht in den kommenden Jahren eine Pandemie der psychischen Störungen. Wir müssen den Menschen vor allem vermitteln, egal ob Einheimischen oder Ukrainern, dass es keine Schande ist, die Hand nach Hilfe auszustrecken. Und wir müssen dringend Ressourcen aufbauen, die wir benötigen, um diese Unterstützung auch bieten zu können. (Raoul Mazhar, 4.3.2022)