Anna Netrebko hat alle Auftritte abgesagt, Waleri Gergijew schweigt und verliert Posten in München.

Roman Zach-Kiesling

Während das Schweigen mancher im Sold russischer Konzerne stehender Ex-Politiker noch keinerlei Parteiausschlüsse oder andere Arten der Bestrafung nach sich zog, geht es im Kulturbereich, speziell im Klassikkosmos, strenger zu. Der russische Dirigent Waleri Gergijew hat die Invasion Russlands in der Ukraine leider mit konsequenter Wortlosigkeit bedacht, was ihn alle westlichen Aktivitäten – inklusive seines Chefpostens bei den Münchner Philharmonikern – gekostet hat.

Sucht man den historischen Vergleich, stellt sich die Frage: Ist Gergijew eine Art Herbert von Karajan, der als Opportunist und Parteimitglied in der NS-Zeit Karriere machte und nach dem Krieg weitestgehend darüber schwieg? Ist er ein Zerrissener, wie einst Wilhelm Furtwängler, der die Kunst frei von Politik halten wollte und sich doch, obwohl kein Nazi, propagandistisch instrumentalisieren ließ? Oder ist Gergijew eine Art Karl Böhm, der sich den Nazis schon vor dem Anschluss andiente, um nach dem Krieg nichts mehr davon wissen zu wollen?

Netrebkos Entdecker

Eines ist wohl gewiss: Gergijew ist einer der international bedeutenden Künstler eines Genres, das die Politik zu allen Zeiten gerne im Sinne von Distinktion und Renommee um sich scharte. Deren erfolgreichste Vertreter werden durch Förderung und Protektion groß und letztlich auch abhängig gemacht. Sie dienen als humanistische Feigenblätter einer inhumanen Politik.

In Russland ist Gergijew tatsächlich eine Institution mit internationaler Strahlkraft: Der Dirigent und Entdecker von Sängerin Anna Netrebko steht seit ewigen Zeiten dem Mariinski-Theater in Sankt Petersburg vor, das auch einen Ableger in Wladiwostok hat. Dazu kommen von ihm initiierte Festivals, Positionen in Gremien und zu seiner Unterstützung staatlich ermöglichte neue Konzertsäle.

Zu Dank verpflichtet

Gergijews machtvolle Präsenz im russischen Kulturleben begleiteten allerdings auch Gesten zweifelhafter politischer Symbolik. 2014 etwa unterschrieb er einen offenen Brief, in dem die Unterstützung der Annexion der Krim bekundet wurde. Zweifellos ein Beispiel für die zu Dank verpflichtete Nähe zum Regime, das auch Sopranistin Anna Netrebko sehr gerne als nationale Trophäe um sich hatte.

Man weiß es nicht erst seit Beginn des Krieges, nur war es bisher egal: Auch die große Sängerin mit österreichischer Staatsbürgerschaft hat in der Vergangenheit für zweifelhafte Symbolik gesorgt. Vor Jahren hat sie – schwer anders zu verstehen – ihre Unterstützung für die prorussischen Separatisten in der Ostukraine gezeigt, indem sie mit deren Flagge und politischer Führung posierte. Ihren 50. Geburtstag feierte sie wiederum im Kreml, wozu es herzliche Worte Putins gab.

In Putins Wahlkampf

Netrebkos mutmaßliche Abhängigkeit ist im Gegensatz zu jener Gergievs allerdings keine strukturelle – sie scheint eher eine emotionale zu sein. Der Wunsch eines Weltstars, von Politik verschont zu bleiben, darf getrost hinzugedacht werden. Angesichts der Invasion ist selbiger natürlich nicht mehr zu erfüllen; Netrebko scheint denn auch gerade mit Konflikten beschäftigt zu sein. Sie, die Wladimir Putin in Wahlkämpfen unterstützt hat, zeigte sich zwar entsetzt und forderte später "Russland auf, diesen Krieg jetzt zu beenden, um uns alle zu retten! Wir brauchen Frieden!" Netrebkos Statement auf Instagram wurde allerdings schnell wieder gelöscht, und die Sängerin sagte alle Auftritte der nächsten Monate ab.

Deutliche Worte gibt es auch

Es geht natürlich auch anders, es gab eindeutigere Reaktionen prominenter klassischer Künstler, die allesamt nicht in Russland – aber doch wieder im Hochkulturbereich – ihre Karrierezentren haben: Kirill Petrenko, der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, hat die Invasion Russlands als "heimtückischen und völkerrechtswidrigen Angriff Putins" verurteilt. Der Russe Wladimir Jurowski, Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, ließ – als Akt symbolischer Solidarität – die ukrainische Hymne spielen.

Entsetzt wirkte auch Dirigent Semjon Bytschkow, der dieser Tage mit seiner Tschechischen Philharmonie im Musikverein gastiert: "Die Träger des Todes und der Vernichtung müssen zur Verantwortung gezogen und geächtet werden", so der 69-Jährige deutlich, wohl im Sinne der Salzburger Festspiele. Selbige bekunden, weder mit Institutionen oder Einzelpersonen, "die sich mit diesem Krieg, dessen Betreibern und deren Zielen identifizieren", zusammenarbeiten zu wollen.

Opernhaus auf der Krim

Früher war das alles nicht so klar und streng. Wer erinnert sich nicht an den Versuch der Firma Gazprom, bei den Salzburger Festspielen die Produktion von Boris Godunov zu fördern? Gerüchteweise hätte es dabei auch einen Besuch von Putin geben sollen. Mutmaßlich hätte dem Despoten das kulturelle Ambiente Salzburgs gefallen, doch Corona kam dazwischen.

Und auch für die besetzte Krim hat Putin ja Kulturelles im Sinn – sogar mit Österreich-Bezug: Sein Bauprojekt eines Opernhauses in Sewastopol auf der von Russland seit 2014 annektierten Halbinsel wird vom Wiener Architekturbüro Coop Himmelb(l)au umgesetzt. Architekt Wolf D. Prix war für den STANDARD übrigens nicht zu sprechen. (Ljubiša Tošic, 4.3.2022)